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Goethes »Faust«: Moderne Widerspruchsfiguration
Thomas Metscher arbeitet an Goethes »Faust« die epochemachenden Dualismen der bürgerlichen Gesellschaft heraus
An der Weimarer Klassik herrscht unter linken Intellektuellen durchaus Desinteresse. Der Fokus auf Avantgardismen eines Brecht oder der Frankfurter Schule hat sozusagen Schule gemacht. Hinzu kommen – keineswegs unbegründete – Aversionen gegenüber der in der ersten »sozialistischen« Republik auf deutschem Boden gepflegten legimitatorischen Propagierung des klassisch-humanistischen Erbes. Mit Thomas Metscher, der sich selbst als Vertreter einer gleichermaßen philologischen wie philosophischen Literaturkritik, »einer kritisch-dialektischen Philologie«, versteht, meldet sich nun eine kompetente, differenziert argumentierende Gegenstimme. Sein voluminöser Band »Faust und die Dialektik« lädt zur Überprüfung eingespielter Routinen ein.
Dialektik als Leitfaden
Metschers Werk ist das Resultat einer 50-jährigen Beschäftigung mit dem Faust-Stoff. Das Buch baut daher auf einer eindrucksvollen Reihe früherer Veröffentlichungen auf – etwa in der, wie es inzwischen scheint, erfolgreich ums Überleben kämpfenden Zeitschrift »Argument«. In acht Kapiteln, die Metscher Bücher nennt, beschäftigt er sich mit der Rezeptionsgeschichte des »Faust«, entfaltet differenziert die »Dialektik der Faust-Dichtung« und untersucht unter dem Titel »Summa poetica« die vielstimmige ästhetische Struktur, um abschließend das Werk in den großen »weltgeschichtlichen« Kampf zwischen Sozialismus und Barbarei einzuordnen. Was macht »Faust« so interessant, dass der Stoff Metscher – ähnlich übrigens wie den Verfasser der Tragödie-Komödie (Goethe sprach 1832 in einem Brief an Alexander von Humboldt nicht ohne Ironie im Hinblick auf seinen »Faust« von einem seltsamen Gebräu, offenbarem Rätsel und sehr ernsten Scherzen) – ein halbes Jahrhundert nicht losgelassen hat?
Zunächst ist da die ziemlich einzigartige Wirkungsgeschichte des Werks. Metscher beschreibt eindringlich den Wandel von einer heroisierenden Deutung der Faust-Figur (des »faustischen Menschen« als eines Menschheitssubjekts und Grenzüberschreiters) zum Archetyp des inhumanen und frauenfeindlichen Aggressors. Dafür setzt er sich intensiv mit den Deutungen Heinz Schlaffers, Rüdiger Scholz’ und Oskar Negts auseinander, wobei er Letzterem bescheinigt, nach Georg Lukács und Gerhard Scholz wenig Neues beigetragen zu haben. Metscher hat auch zu Albrecht Schönes viel gepriesener Faust-Edition durchaus kritische Einwendungen parat, während er die philologisch-akribische Pionierarbeit Michael Jaegers zu schätzen weiß.
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Anders als etwa Schlaffer – der Faust als Allegorie und poetische Verwirklichung einer der modernen Welt allein adäquaten negativen Dialektik versteht sowie dem Werk (selbst Fausts Todesmonolog) jegliche utopische Dimension abspricht – macht Metscher die Dialektik zum Leitfaden, zum Schlüssel seiner Interpretation. Deren wichtigste Elemente sind auf logischer Ebene das Widerspruchsprinzip und auf ontologischer Ebene die Prozessualität, die gut hegelianisch über die Negation hinaus zur Aufhebung des Gegensatzes führt. »Die Grundbestimmung des ästhetischen Verfahrens Goethes« und seiner ästhetischen Weltaneignung dürfte, so Metschers These, lauten: »Dialektik als Kunst des Widerspruchs, der Gegensatz als reale Bewegung des Seins.«
Gegen undialektische Reduktion
Bei Goethe gibt es folgerichtig eine große Zahl von Widerspruchsfigurationen: neben Faust und Mephistopheles etwa Gretchen und Faust, Helena und Faust, die feudale Welt als Maskenspiel, die hochkomplexe Figuration der klassischen Walpurgisnacht oder die arkadische Utopie in der Verbindung von antiker und moderner Welt. Im fünften Akt des zweiten Teils tritt Faust als Kolonisator und imperialer Bourgeois auf, aber auch Philemon und Baucis. Und im Werk-Epilog, der Bergschluchtenszene als komödiantischer Kontrafaktor des Prologs erscheint Gretchen als »Jungfrau, Mutter, Königin/Göttin«.
Komplexitätsmaximierung ist die notwendige Folge von Goethes Verfahren, das an den Zuschauer und den Literaturwissenschaftler hohe Ansprüche stellt. »Im Ganzen gesehen zeichnet sich ›Faust‹ also gegenüber anderen Werken seiner Epoche durch eine vielfach gesteigerte Komplexität aus«, urteilt Metscher. Mit »der bewussten Aufnahme nicht nur künstlerisch-ästhetischer, auch historisch-kultureller Widerspruchsstrukturen« liefere Goethe daher eine »Totalität erfahrener Welt, die den Bedeutungsspielraum überlieferter Literatur, auch des höchsten Ranges, weit übersteigt«. Auf der formalen Ebene entspricht dem eine ästhetische Pluralität, die bewegt-gegensätzliche Synthesis aller »Naturformen der Poesie« (Goethe) und aller Theaterformen von antiken Dramen über die französische Komödie, Shakespeare bis zur Mozart-Oper. Angesichts dieser Vielschichtigkeit rechtfertigt sich der Umfang der vorliegenden Studien zwanglos.
Metscher wendet sich gegen eine undialektische Reduktion Fausts auf einen Global Player der hässlichen kapitalistischen Form des Fortschritts.
Metscher wendet sich gegen eine undialektische Reduktion der Faust-Figur, etwa auf einen Global Player der hässlichen kapitalistischen Form des zivilisatorischen Fortschritts. Für ihn ist Faust ein »Amalgam verschiedener Figuren«, in dem Elemente des Prometheischen, des Rebellischen, der mittelalterlichen Gelehrsamkeit, produktiver Bildungsgeschichte wie der modernen problematischen kapitalistischen Rationalität und auch des Patriarchats stecken. Kurzum: Faust ist zugleich Citoyen und Bourgeois, Repräsentant der Janusköpfigkeit des Kapitalismus.
Goethes Frauenfiguren ist es überlassen, das utopische Element der Faust-Figur zur Entfaltung zu bringen, was frühere meist männliche Interpreten nicht verstanden haben. Der Gott des Prologs entpuppt sich am Ende als Theatergott und in der Bergschluchtenszene des Epilogs dominiert das weibliche Personal. Das »Ist gerettet« am offenen Ende des Dramas ist für Metscher nicht als Stimme des Herrn zu deuten, sondern eine weibliche Stimme, die erste Stimme der Bergschluchtenszene. Gretchen, die Geschundenste aller Dramenfiguren, wird letztlich auch Fausts Retterin, eines Faust ohne Magie, ohne Teufel. Sie vertritt den neuen Tag einer zur Wirklichkeit werdenden sozialen Utopie.
Goethes Werk ist daher, was Peter Hacks als Erster erkannt hat, recht verstanden keine Theodizee, sondern eine Anthropodizee, »ein Versprechen auf die Zukunft hin«, in der ein neues Sein möglich ist, das den Prinzipien der Macht und Gewalt eine Absage erteilt. Goethes Hinwendung zur Immanenz des Sinnes steht in der Tradition Spinozas, der mit seiner Formel »natura sive substantia sive deus« (Natur oder Substanz oder Gott) Gott aus dem transzendenten Himmel geholt hat, aber auch des utopischen Sozialismus Saint-Simons sowie des Liebeskonzepts von Mozarts Musiktheater.
Die große Konfrontation vorgebildet
Metscher betont leitmotivisch: »Goethe war, der Forschung entgegen, seinen radikalen Ursprüngen keineswegs untreu.« So regt Metschers Buch an, die Radikalität und Modernität des Goetheschen »Faust« neu zu entdecken. Dazu bringt er das Werk im Schlusskapitel mit der Tradition großer utopischer Literatur in Verbindung, namentlich mit Thomas Manns Faustus-Roman und Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands«. Metscher legt überzeugend dar, dass Goethes letztes großes Werk die Konfrontation von Humanität und Barbarei, Realismus und Nihilismus, Marx und Nietzsche vorgebildet hat, »die das kommende Jahrhundert bestimmen wird«.
Im Juli dieses Jahres ist der Philosoph, Literaturwissenschaftler und streitbare plurale Marxist Thomas Metscher 90 Jahre alt geworden. Sein umfangreiches Werk erscheint in den letzten Jahren sukzessive im Kasseler Mangroven Verlag, es ist damit so etwas wie eine kleine Werkausgabe entstanden. Mit seinen Faust-Studien in der Nachfolge von Lukács und Hans Heinz Holz hat er nach langen Jahren der Aneignung und Durchdringung des Stoffes ein Respekt heischendes Opus geschaffen, das Resonanz verdient.
Thomas Metscher: Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung. Mangroven-Verlag, 610 S., geb., 40 €.
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