- Kultur
- Mauricio Rosencof
Schuhe für den Aufseher
In »Das Schweigen meines Vaters« erzählt Mauricio Rosencof keine Geschichte, sondern einen Zustand: Überlebt zu haben
Ein Mann fährt Zug. Er ist auf dem Weg zu seinem Sohn, den er alle paar Monate besucht. Während der Fahrt steigen fortwährend Blasen der Erinnerung in ihm auf. Bald scheint es, dass das einzige, das ihn noch in der Gegenwart hält, sein Bedürfnis zu pinkeln ist.
Ganz selten denkt der Mann auch an die allernächste Zukunft: Er hat Schuhe dabei, die er seinem Sohn geben möchte, er hat auch Obst dabei, er hofft, dass der Sohn es auch erhält. Der Sohn ist nämlich inhaftiert, als »Geisel des Staates«. So nannte man jene politischen Gefangenen in Uruguay, die nach dem Militärputsch 1973 in Kasernen festgesetzt worden waren.
Der erwähnte Sohn ist Mauricio Rosencof, ehemals führendes Mitglied der MLN-Tupamaros und Autor des Buches. Sein Vater verließ in den 30er Jahren das polnische Shtetl, in dem seine Familie zunächst lebte, aus dem sie später deportiert wurde, um in einem Vernichtungslager ermordet zu werden.
Das Schweigen des Vaters beginnt mit jenen Briefen, die aus der einstigen Heimat eintreffen und die er nicht mehr am Abendbrottisch vorlesen mag, sondern, wenn überhaupt, leise flüsternd mit seiner Frau bespricht. Das Schweigen, das ihn von da an umhüllt, wird derart umfassend sein, dass er seinem Sohn kaum noch eine Erinnerung mitteilen können wird; die physische Vernichtung der Welt, wie er sie kannte, verhindert jedes Erzählen über sie. Erst viel später, in jenem Gefängnis nämlich, in dem der Sohn sitzt, an einem blanken Tisch wird er wieder von seiner eigenen Kindheit und Jugend berichten können und von den Menschen, die diese seine Vergangenheit bevölkerten und von denen viele, viele nicht mehr sind. Dafür hat er zehn Minuten alle paar Monate. Das ist alles.
Dieses Buch ist in einer Weise aufgebaut, die auf dem deutschen Buchmarkt nicht funktioniert: Es ist ein Konglomerat von Textfetzen, Erinnerungen, Eindrücken, Briefausschnitten, teils erfunden, teils real. »Das Schweigen meines Vaters« erzählt keine Geschichte, sondern einen Zustand. Es gibt keine Peripetie, es gibt keine Auflösung, es gibt das Leid der Menschen, die ermordet wurden und erniedrigt, und jener, die überlebt haben. Und es erzählt davon, dass es möglich ist, sich ihrer zu erinnern, ohne sie zu verurteilen oder – noch schlimmer – zu einer Story zu verbiegen.
Diese Art der Erinnerung verlangt den Leser*innen ab, sich auf das Buch einzulassen; nicht nur auf das Buch, sondern auf die ganze Erzählart des Fragmentarischen, Dahingeworfenen. Die Kunst des Romans bestand maßgeblich darin, eine schlüssige Erzählung dafür zu liefern, warum Figuren so sind, wie sie sind; der Roman ist ästhetisch ein absicherndes Konzept. Ein jüngeres Beispiel dieser Art des Erzählens ist »Geschwister im Gegenlicht« von Sabine Bode, die versucht, die »Narben der Herkunft« (Klappentext) eines Geschwisterpaars zu beschreiben, deren Eltern Täter*innen waren. Die Pointe dieses Buchs liegt darin, dass sich die geläuterten Nachgängergenerationen mit der Vergangenheit aussöhnen, weil sie wieder zueinanderfinden.
Die Pointe von »Das Schweigen meines Vaters« liegt darin, dass es keine gibt. Das Buch hört auf mit Fotos von Menschen, die systematisch ermordet wurden, und erzählt auch auf kürzeste Weise, wie sie getötet wurden. Es will nicht aussöhnen, nur konstatieren. Das ist passiert, da kommt man nicht drumrum. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus interessant, dass sich in Deutschland vor allem Romane gut verkaufen, kurze Texte und auch Fragmente aber selten bis nie ein Publikum gefunden haben: Die Erinnerungsstruktur der deutschen Kulturlandschaft ist eine, die in der Psychologisierung eine Entlastung sucht.
Die Schuhe, die Mauricio Rosencofs Vater ihm mit ins Gefängnis bringt, passen perfekt: einem seiner Aufseher. Rosencofs Buch erzählt davon, dass es Moral nicht gibt, nur Haltung.
Mauricio Rosencof: Das Schweigen meines Vaters. Aus d. Span. v. Svenja Becker. Assoziation A, 160 S., geb., 18 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.