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Unentschlossen und milde: Mariame Cléments Inszenierung von Charles Gounods »Roméo et Juliette« an der Staatsoper in Berlin

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.
Keine Nachtigall zu sehen. Auch keine Lerche. Nur der Blick in Julias Zimmer im Bahnhofskneipenambiente.
Keine Nachtigall zu sehen. Auch keine Lerche. Nur der Blick in Julias Zimmer im Bahnhofskneipenambiente.

Auch wer von Shakespeares Drama wenig Ahnung hat, kennt Romeo und Julia. Ein junger Mann, eine junge Frau aus verfeindeten Familien: das Liebespaar schlechthin – und ein absehbar tragisches Ende erspart die Mühen des Alltags. So kann die Liebe absolut bleiben.

38 Romeo-und-Julia-Opern seit dem späten 18. Jahrhundert zählt die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Schmierer im Programmheft der Staatsoper; offenkundig lädt der Stoff zur Vertonung ein. Eine der meistgespielten Versionen, neben der sinfonischen Dichtung von Pjotr Tschaikowski und dem Ballett von Sergej Prokofjew, ist die Oper von Charles Gounod. Die Handlung ist geschickt auf die emotional wirksamsten Szenen konzentriert, und besonders die beiden Titelpartien sind dankbare Rollen.

Damit Roméo und Juliette auf vier Liebesduette kommen, wird sogar das Ende umgeschrieben. Bei Shakespeare will Julia einer Zwangsheirat entgehen und nimmt einen Trank, der sie in einen Scheintod versetzt. Romeo hält sie für wirklich tot, bringt sich um; Julia erwacht, sieht die Leiche des Geliebten und erdolcht sich. In der Oper hingegen kommt Juliette noch rechtzeitig zu sich, um mit dem sterbenden Roméo ausführlich Abschied zu singen.

Dies alles geschieht mit einer gewissen Dezenz. Bei Gounods wie in Wagners kurz zuvor entstandenem Musikdrama »Tristan und Isolde« steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, das sich auf den Tod hinbewegt. Doch wo Wagner mit ganz neuen Mitteln eine zuvor auf der Opernbühne ungekannte Intensität erreichte, zielte Gounod auf das Einverständnis mit dem Publikum, das er auch sofort fand. Die Gefühle auch der Jugendlichen, die sich bis in den Tod gegen ihre Familien auflehnen, blieben doch domestiziert, jedenfalls stets all den Eltern vermittelbar, die die Zuschauerräume füllten.

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Eine Entwicklung von formelhafter Musik am Anfang des Werks zum Subjektiven an seinem Ende ist nur angedeutet. Für Ohren, die sich an kühnere und raffiniertere Harmonien gewöhnt haben, klingt das nach einer durch Vernunft kontrollierten Entfesselung; aber Vernunft muss ja nicht das Schlechteste sein.

Die Regisseurin Mariame Clément hat Ideen genug, aber taugen sie? Ohne Erkenntniswert ist die abgegriffene Stück-im-Stück-Konzeption, die den Prolog und einen Abschnitt kurz vor Ende bestimmt: Der Chor sitzt als Publikum auf der Bühne und spiegelt das reale Publikum. Interessanter scheint es zunächst, die Diskussion über Klassismus aufzugreifen.

Tatsächlich weist Gounods Oper durch notwendige Kürzungen des Dramas ein gewisses Ungleichgewicht auf. Juliettes Familie, die Capulets, tritt tatsächlich als Familienverband auf, während Roméos Montaigus nur noch als ungebundene Gruppe von Männern erscheinen. Bei Clément wird daraus ein Konflikt zwischen oben und unten. Dies aber trägt nicht.

Die Auseinandersetzung zwischen den Capulets und den Montaigus im dritten Akt, der zwei Tote fordert und den Konflikt verschärft, verlegt die Inszenierung in eine Basketballhalle. Der Verlauf ist sehr gut choreografiert und zeigt nicht jene Unbeholfenheit, die Kämpfe auf der Bühne manchmal peinlich wirken lässt.

Unpassend ist nur, dass es die Nachkommenschaft der Besserverdienenden gar nicht nötig hat, sich mit irgendwelchen Prolls um die Hegemonie in einer Sportstätte zu balgen. Es genügt, von einem Cousin jene Telefonnummer zu erhalten, die es für den Job anzurufen gilt, und dann beim Gespräch so plaudern zu können, wie man es weiter unten allenfalls mit sehr viel Glück gelernt hat.

Es betrübt aus linker Sicht immer, Regie-Ideen kritisieren zu müssen, die, aufgrund von progressiven Überlegungen, Richtiges auf einen für diese ungeeigneten Stoff anwenden. In dieser Inszenierung passt kaum ein Gedanke zum anderen, und am besten ist es noch, wenn Clément gar nichts einfällt. In solchen Passagen entsteht ein Freiraum, in dem sich die musikalische Charakterisierung der Figuren entfalten kann.

Dafür bietet die Bühne von Julia Hansen einen mal mehr, oft weniger geeigneten Rahmen. Modern und kühl wirkt der öffentliche Bereich der Capulet-Villa, so wie auch die Fenster, die in den anliegenden Garten hineinragen. Man kennt das aus vielen Inszenierungen: Die Kälte der Mächtigen entspricht ihrem Einrichtungsgeschmack, der aufs Unbehauste zielt. Kümmerlicher dagegen ist die Schule, in der der bei Clément zum Religionslehrer degradierte Pater Laurent – Vertrauter Roméos wie Juliettes – unterrichtet.

Von abgestandenem Männerschweiß jahrelang durchtränkte Sportstätten sind ohnehin ein fast ebenso unwirtlicher Ort wie die Leichenhalle der Schlussszene. Unklar bleibt, weshalb Juliettes Schlafzimmer, immerhin im aseptischen Heim der Capulets gelegen, aussieht wie das Hinterzimmer einer in die Jahre gekommenen Bahnhofskneipe.

Leidenschaft lässt sich in solchen Räumen nur schwer vermitteln; und wenn Roméo und Juliette sich vor der einzigen gemeinsamen Nacht gegenseitig die Kleidung ausziehen, wirkt das ebenso ungelenk wie zuweilen in der Lebenspraxis. Immerhin müssen die beiden sich dabei noch aufs Singen konzentrieren.

Elsa Dreisig ist eine stimmstarke Juliette, mit beinahe zu kraftvollen Spitzentönen. Damit aber gibt sie der Figur, was die Regie verweigert, die ein etwas lasch rebellierendes Gör herzeigt. Dreisig macht so trotz aller Widerstände glaubhaft, was diese Juliette antreibt, für die Liebe alles zu geben und bis in den Tod zu gehen. Das lässt sich weniger von dem Roméo sagen, den Amitai Pati mit etwas enger, gepresster Stimme singt. Überzeugender sind manche Nebenfiguren besetzt, vor allem mit Marina Prudenskaya als Juliettes Amme und Ema Nikolovska als Stéphano, die zur Bande der Montaigus gehört; letztere – so viel Aktualität muss sein – laut Clément eine »nichtbinäre Person«.

Das Orchester unter Stefano Montanari begleitete zurückhaltend, mit luxuriös sanften Klängen vor allem der Streicher, und gab sich brav auch da, wo etwas mehr Zugriff angemessen gewesen wäre. Gounods späte Idee, nach Juliettes Scheintod eine Ballettepisode einzufügen, war vermutlich keine gute. Hätte er die Gymnastik vorhergeahnt, die nun auf der Staatsopernbühne stattfindet, er hätte die Sache gelassen.

Nächste Vorstellungen: 20., 22. und 24. November
www.staatsoper-berlin.de

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