Krisenkompromiss

Nach Tarifeinigung in Metall- und Elektroindustrie droht Reallohnverlust

  • David Bieber und Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 4 Min.
Ob sie mit der Einigung auch zufrieden sind? Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie bei einer Demonstration in Hamburg
Ob sie mit der Einigung auch zufrieden sind? Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie bei einer Demonstration in Hamburg

Nach einem zähen, fast 18-stündigen Verhandlungsmarathon haben sich am Dienstagmorgen die IG Metall und die Arbeitgeber in Hamburg auf einen Tarifabschluss für die Metall- und Elektroindustrie geeinigt. »Es ist gelungen, trotz schwieriger Rahmenbedingungen ein solides Ergebnis für die Beschäftigten zu erzielen«, sagte Christiane Benner, Vorsitzende der Industriegewerkschaft, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Gesamtmetall. »Wir sind zufrieden, aber nicht euphorisch«, unterstrich auch Stefan Wolf, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes. Der Einigung waren drei ergebnislose Verhandlungen und zahlreiche Arbeitsniederlegungen im gesamten Bundesgebiet vorangegangen.

Der Einigung zufolge sollen die Beschäftigten stufenweise 5,1 Prozent mehr Lohn in den kommenden zwei Jahren erhalten. Hinzu kommt eine Einmalzahlung von 600 Euro im Februar 2025. Eine soziale Komponente, die an die Umsatzrendite der jeweiligen Unternehmen gebunden ist, soll insbesondere Beschäftigten mit niedrigen Einkommen zugutekommen. Auch wurde eine Ausweitung des Wahlmodells zwischen Zeit und Geld vereinbart. Insbesondere die Ausbildungsvergütungen, die ab dem kommenden Jahr um 140 Euro je Lehrjahr ansteigen, hob Benner positiv hervor.

»Die Einbußen der letzten Jahre werden nicht wettgemacht.«

Alexander Gallas 
Streikforscher, Universität Kassel

Dass die Erhöhung der Ausbildungsvergütung ein Erfolg für die IG Metall ist, sieht auch Streikforscher Alexander Gallas von der Universität Kassel so. Allerdings betrachtet er die lange Laufzeit von 25 Monaten und die vergleichsweise niedrige Entgeltentwicklung als problematisch. »Die Einbußen der letzten Jahre werden dadurch nicht wettgemacht«, betont er mit Blick auf die hohen Inflationszahlen infolge des russischen Angriffskrieges und den folgenden Energiepreisschock. Vereinbart sind zunächst sogenannte Nullmonate. Erst im April folgt dann eine Erhöhung um 2 Prozent und im Jahr 2026 um weitere 3,1 Prozent. »Das bildet die aktuelle Inflationsrate ab«, erklärt Gallas. Aber für eine Trendwende bei der Lohnentwicklung werde es nicht reichen, unterstreicht er.

Die Tarifauseinandersetzungen hatten bereits im Juni begonnen und standen – dieses Mal mehr denn je – unter schwierigen gesamtwirtschaftlichen Vorzeichen. Nicht zuletzt die Transformationskrise in der Automobilindustrie bereitet vielen Zuliefererbetrieben Sorgen. »Rund um die Autoindustrie gibt es Fragen, etwa wie der Wechsel auf Elektromobilität funktionieren kann, auch mit Blick darauf, was von Managementseite verschlafen wurde«, erklärt Gallas. »Und es gibt in der Branche Unternehmen, die sehr mit der Weltmarktkonkurrenz kämpfen.«

So hatte etwa der weltweit tätige Industriegetriebehersteller ZF mit Sitz in Friedrichshafen im Juli mitgeteilt, zwischen 11 000 und 18 000 Stellen in Deutschland abbauen zu wollen. Am Standort im nordrhein-westfälischen Witten kämpfen die Beschäftigten um den Erhalt von rund 60 Prozent der Jobs. Kein gutes Umfeld für offensive Tarifforderungen. Die Stimmung unter den Beschäftigten ist »sehr nervös«, wie ZF-Betriebsratsvorsitzender Frank Blasey im Gespräch mit »nd« erklärt. Er fordert einen sozialverträglichen Rettungsplan, der aber von der Arbeitgeberseite derzeit abgelehnt wird.

Entsprechend kompromissbereit zeigten sich beide Seiten in den Tarifverhandlungen. »Wir waren bereit, die Arbeitskosten zu erhöhen, weil der Schaden durch Streiks weitaus höher gewesen wäre«, erklärte Gesamtmetall-Chef Wolf. Dass auch die Gewerkschaft sich gegen eine Ausweitung des Arbeitskampfes entschied, ist für Streikforscher Gallas nachvollziehbar: »Im Vergleich zum öffentlichen Dienst oder zur Bahn sind die Kampfbedingungen in der Metall- und Elektroindustrie derzeit andere.« Es gebe eine größere Abhängigkeit vom Weltmarkt, drohende Produktionsverlagerungen schlagen stärker durch.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Doch nicht allen gehe es schlecht, betont Gallas. »Es ist eine zerklüftete Branche.« So floriere etwa der Rüstungsbereich angesichts der geopolitischen Krisen. Darüber hinaus gebe es viele Unternehmen in der Branche, die nicht schlecht aufgestellt sind, erklärt er. »Eine umfangreichere Tariferhöhung könnte von vielen Unternehmen gestemmt werden.« Insofern sei insbesondere die an die Umsatzrendite gebundene soziale Komponente für die Branche angemessen. Auch weil durch den Festbetrag statt einer Tabellenerhöhung die unteren Lohngruppen besonders profitieren würden.

Die nun erzielte Einigung gilt zwar zunächst nur für die Bezirke Bayern und Küste, darunter Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Bremen und das nordwestliche Niedersachsen. Doch der sogenannte Pilotabschluss dient als Vorlage für alle 3,9 Millionen Beschäftigten in der Industrie. Am Dienstag erklärte bereits der nordrhein-westfälische IG-Metall-Bezirksleiter, Knut Giesler, er werde seiner Tarifkommission die Empfehlung geben, den Abschluss zu übernehmen. »Das Verhandlungsergebnis passt zur veränderten wirtschaftlichen und politischen Situation der letzten Wochen. Es bringt Stabilität und Sicherheit für die Beschäftigten und für die Wirtschaft«, bestätigte er gegenüber »nd«.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.