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Das Völkerrecht in die eigene Hand nehmen?

Yossi Bartal über ein Regelwerk, das von mächtigen Staaten regelmäßig ignoriert wird

Um Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu rächen, erschoss der Anarchist Scholom Schwartzbard 1925 den ukrainischen Präsidenten in Paris.
Um Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu rächen, erschoss der Anarchist Scholom Schwartzbard 1925 den ukrainischen Präsidenten in Paris.

Ob in der Ukraine, in Israel-Palästina oder in der Westsahara – das Völkerrecht ist in aller Munde. Dieses komplexe Konstrukt, das historische Verträge zwischen Imperialmächten, Kriegsregeln (euphemistisch als humanitär bezeichnet), Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats und menschenrechtliche Verpflichtungen in sich vereint, scheint überall eine Rolle zu spielen – vor allem dort, wo es verletzt wird. Der Umgang mit denen, die dagegen verstoßen – seien es Staaten, Unternehmen oder bewaffnete Gruppen –, war und ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Um zumindest gegen die schlimmsten Verbrecher, die Massengewalt verüben, vorzugehen, wurde im Laufe des vergangenen Jahrhunderts das Völkerstrafrecht geschaffen – und ihm geht es heute gar nicht gut.

Denn obwohl wir seit mehreren Jahren den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag haben und zahlreiche Staaten sich zur Ahndung von Völkerstraftaten verpflichtet sehen, leidet diese Strafverfolgung unter einem auffälligen Doppelstandard. Der Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz ist schon im nationalen Recht kaum verwirklichbar – global betrachtet erscheint er wie ein schlechter Witz. Dies betrifft nicht nur Weltmächte wie die USA, die sich gesetzlich das Recht vorbehalten, in Den Haag einzumarschieren, falls das Gericht dort auf die Idee käme, US-Amerikaner und ihre Verbündeten anzuklagen. Auch Mitgliedstaaten des Römischen Statuts wie Großbritannien, dessen Soldaten im Irak Menschen gefoltert haben, bleiben verschont. Bis vor Kurzem wurden in Den Haag Strafverfahren nur gegen Menschen aus Afrika eröffnet. Auch in Deutschland werden Ermittlungen auf Grundlage des Weltrechtsprinzips sehr selektiv geführt.

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

Agiert das Gericht doch einmal gegen mächtige Akteure, ziehen viele nicht mit. So durfte der russische Präsident Wladimir Putin zuletzt in die Mongolei einreisen, obwohl das Land verpflichtet gewesen wäre, ihn festzunehmen. Und laut dem voraussichtlichen zukünftigen Kanzler Friedrich Merz (CDU) soll sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auch in Deutschland wohlfühlen dürfen, selbst wenn ein Haftbefehl gegen ihn erlassen würde. Es ist ein Paradox: Gerade jetzt, mit dem Wandel zu einer multipolaren Weltordnung und einer grenzüberschreitenden Klimakrise, wäre die Stärkung völkerrechtlicher Prinzipien – auch aus europäischer Sicht – notwendig. Dennoch werden globale Institutionen zu deren Durchsetzung von mehreren Seiten geschwächt und sind mit der Wiederwahl Donald Trumps noch akuter bedroht.

In den 1920er Jahren

Wie können Kriegsverbrecher und Völkermörder zur Rechenschaft gezogen werden, wenn unsere Regierungen dazu nicht in der Lage oder nicht gewillt sind? Ein Blick in die Anfangsjahre des Völkerstrafrechts kurz nach dem Ersten Weltkrieg könnte lehrreich sein. Auf Druck der Siegermächte kam es in Deutschland und im Osmanischen Reich zu Prozessen gegen Kriegsverbrecher bzw. die Verantwortlichen des armenischen Genozids. Während deutsche Richter in den sogenannten Leipziger Prozessen fast alle angeklagten Mitglieder des Deutschen Heeres freisprachen oder mit extrem milden Strafen belegten, verurteilten osmanische Richter mehrere Funktionäre der Jungtürken zum Tode. Doch die meisten Angeklagten hatten es rechtzeitig geschafft, aus Istanbul zu fliehen, zum Teil mit einem deutschen U-Boot. Einer davon war der ehemalige Innenminister und Großwesir Talaat Pasha, der sich in Berlin versteckte.

Geschützt vor Auslieferung durch die Behörden, endete sein Berliner Aufenthalt wenige Jahre später im Jahr 1921, als der 25-jährige Armenier Soghomon Tehlirian ihn vor seinem Wohnhaus in Charlottenburg erschoss. Vor dem Geschworenengericht erklärte der junge Attentäter, er habe im Genozid über 85 Familienmitglieder, darunter seine Mutter, verloren und sie rächen müssen. Daraufhin wurde er wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen – sichtlich der einzige Weg der Geschworenen, seinen Akt für gerechtfertigt zu erklären.

1926 erschoss der jiddische Dichter Scholem Schwartzbard den exilierten ukrainischen Präsidenten Symon Petljura in Paris – und wurde freigesprochen.

Der medienwirksame Fall inspirierte auch andere. 1926 erschoss in Paris der jiddische Dichter und Anarchist Scholem Schwartzbard den im Exil lebenden Präsidenten der Ukrainischen Volksrepublik, Symon Petljura. Schwartzbard machte Petljura für die Pogrome während des russischen Bürgerkriegs verantwortlich, bei denen bis zu 200.000 Juden ermordet wurden, darunter 14 Familienmitglieder von Schwartzbard. Auch dieser Fall kam vor ein Geschworenengericht, wodurch die Verteidigung die massenmörderische Gewalt der ukrainischen Nationalisten auf die Anklagebank setzen konnte. Nach acht Verhandlungstagen wurde Schwartzbard ebenfalls freigesprochen.

Im damals noch polnischen Lwow erregten beide Fälle das Gemüt eines jungen Jurastudenten namens Raphaël Lemkin. Das rechtsmoralische Dilemma konnte für ihn kaum größer sein: Darf man Selbstjustiz ausüben, wo das Recht nicht vorhanden ist? Verzerrt die Rachelust in solchen Taten nicht die offensichtliche Gerechtigkeit? Deswegen setzte sich der angehende Jurist dafür ein, die Vernichtung ganzer Bevölkerungen als »Verbrechen der Barbarei« international zu kodifizieren. Zunächst ohne Erfolg. Während seine ganze Familie von Nazi-Deutschland ermordet wurde und er im US-Exil lebte, prägte er den Begriff »Genozid« und trug maßgeblich dazu bei, dass nach dem Zweiten Weltkrieg fast alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sich zur Verhütung dieses Verbrechens verpflichteten.

Gegen das Recht des Stärkeren

Aber kann tödliche Selbstjustiz wirklich die Antwort sein, wenn die Weltgemeinschaft trotz Verpflichtungen immer wieder daran scheitert, Massengewalt zu verhindern oder nachträglich zu bestrafen? Das wäre eine riskante Schlussfolgerung, denn der Weg von Selbstjustiz zum Recht des Stärkeren ist erschreckend kurz – wie die USA und ihr engster Verbündeter in Jerusalem zeigen. Seit Beginn des Jahrhunderts haben sie in ihren Augen verbrecherische Regime bekämpft und bestraft: Ob Taliban- und ISIS-Anführer, Saddam Hussein, Muammar Gaddafi oder die Chefetagen von Hisbollah und Hamas. Anstatt vor den Internationalen Gerichtshof gestellt zu werden, fanden diese Akteure ihr Ende durch gewaltsame Maßnahmen, wobei die Zerstörung ganzer Länder und die Tötung zahlloser unschuldiger Zivilisten oft die grausamen Folgen waren.

Für emanzipatorische Bewegungen können Attentate keine langfristige Strategie sein. Aber das bedeutet nicht, dass das Völkerrecht nicht dennoch »von unten« erkämpft werden sollte. Man kann etwa zivile Boykotte gegen Unternehmen und Staaten fordern, die Apartheid-Regime aufrechterhalten, oder – wie in Argentinien – Folterer öffentlich bloß stellen und ihnen keine Ruhe lassen. Auch können Daten von Kriegsverbrechern gesammelt werden, von einfachen Soldaten bis hin zu höchsten Befehlshabern, wie dies derzeit ukrainische, syrische und palästinensische Aktivisten in der Hoffnung tun, dass jene eines Tages in ein Land einreisen, wo ihnen Strafverfolgung droht.

Die Geschichte ist lang, und wie Bertolt Brecht treffend bemerkte: »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.« Die Hoffnung, die Massenmörder der Gegenwart eines Tages vor Gericht stellen zu können, dürfen wir nicht aufgeben. Sollten sie jedoch erneut der Gerechtigkeit entkommen – vielleicht sogar wieder mithilfe eines deutschen U-Boots –, darf niemand überrascht sein, wenn Menschen, die im Genozid – wie aktuell in Gaza – zahlreiche Angehörige verloren haben, wie einst in den 1920er Jahren die Täter selbst auf den Straßen von Paris oder Berlin zur Rechenschaft ziehen. Nicht schwer vorherzusehen ist, wie die Gerichte, dieses Mal ohne Geschworene an ihrer Seite, mit solchen »selbsternannten Rechtsvertretern des Weltgewissens« (Lemkin) umgehen würden.

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