Der Außerhalbstehende

Zum 60. Todestag des Schriftstellers und Kosmopoliten Emil Szittya

wikimedia.com/CC BY-SA 4.0
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Es geschieht nicht oft, dass Vergessene ins Licht der Gegenwart gezerrt werden. Und wenn es doch geschieht, ist der lange im Gedächtnisloch Verschwundene und daraus wieder Hervorgeholte selten ein Tunichtgut und Unangepasster gewesen. Der Schriftsteller, Journalist, Zeitschriftenherausgeber, Maler, Antifaschist, Individualanarchist, Résistance-Kämpfer und Herumtreiber Emil Szittya (1886–1964) war so einer. Auch Dadaist war er, wenn er selbst auch keinesfalls so etikettiert werden wollte. »Die Dadaisten«, schrieb er, »wollten über die Kunstpose kindisch lachen, um wieder die reine Kunsttat zu haben. Wäre der Dadaismus nicht ein mißlungener Geschäftsschwindel gewesen, wäre von hier aus sicher eine neue Kunst emporgekommen.«

Geboren als Adolf Schenk in Ungarn, streifte Szittya als Jüngling rastlos durch Europa, trieb sich in der Subkultur herum, zeigte sich in München in den Kreisen um Erich Mühsam und war »magnetisch angezogen von Berlins Künstler-Cafés und Bordellpublikum, vom Cabaret Voltaire in Zürich, von der politischen Pariser Szene wie der frühen Öko-Bohème der Vegetarier auf dem Monte Verità im Tessin« (»Tagesspiegel«). Befreundet war er mit Hugo Ball, Emmy Hennings, Franz Jung und anderen aus der künstlerisch-literarischen Avantgarde seiner Zeit.

Während des Ersten Weltkriegs ging er nach Zürich, wo er sich, wie er sagte, »an der Propaganda gegen das kaiserliche Deutschland« beteiligen wolle. Dort gründete er auch die Zeitschrift »Der Mistral«, für die unter anderem der Futurist Marinetti, Georg Trakl, Carl Sternheim und andere Expressionisten Beiträge verfassten. Szittya über seine kleine Avantgarde-Publikation: »Über die schrieb sogar Romain Rolland, wenn auch ablehnend.« Glaubt man seinen eigenen Aufzeichnungen, was man nicht immer vorbehaltlos tun sollte, will er in Zürich auch Lenin kennengelernt haben (der wiederum, das zumindest behauptet Szittya, ihn eines Tages mit den Worten begrüßt haben soll: »Na, immer noch Anarchist?«).

Nach Ende des Krieges, in den 1920ern, reiste der Kosmopolit zwischen Deutschland und anderen Ländern hin und her, lebte überwiegend in Berlin und schrieb: Journalistisches, Bücher zu kunstgeschichtlichen Gegenständen, eine Kulturgeschichte des Suizids und überaus eigenwillige Prosatexte. 1923 erschien sein bekanntestes Werk, das »bis heute als Informationspool für die Gegenkultur des frühen 20. Jahrhunderts unentbehrlich geblieben ist«, wie der Germanist Walter Fähnders anmerkt. Das Buch, von dem hier die Rede ist, hat vor allem einen sehr guten Titel: »Das Kuriositäten-Kabinett. Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern«.     

1927 siedelte Szittya nach Paris über, wo er ab 1934 für eine Weile die antifaschistische Zeitschrift »Die Zone« herausgab. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Autorentätigkeit für deutsche Zeitungen bereits niedergelegt. In einem Bettelbrief von damals heißt es: »(…) seit dem Hitlertum habe ich aufgehört für Deutschland zu arbeiten. Sie wissen, ich habe Frau und Kind. Seit 4 Jahren verdiene ich nichts mehr. Uns geht es sehr schlecht. Wir hungern. Wir können keine Miete bezahlen.«

In seinem 1933 erschienenen Text »Der Außerhalbstehende« beschrieb er sein eigenes Selbstverständnis »als Außenseiter, als Kritiker der Gesellschaft und der sozialen Ordnung« (Jonas Engelmann). Er nahm sich wahr als jemand, der noch bei Verstand geblieben ist – im Gegensatz zu einer vom Irrationalen und von Wahn ergriffenen gesellschaftlichen Mehrheit: »Es kommt gerade heute auf eine anständige machtgegnerische Gesinnung an. Jeder schöpferische Mensch muss sich diesmal gegen die Massenpsychosen für ein ›Nein!‹ entscheiden, wenn das auch nach allen Seiten hin gefährlich ist.« Als 1940 die Nazis Paris besetzten, floh er mit seiner Familie nach Südfrankreich und engagierte sich bis 1944 in der Résistance.

In jungen Jahren schrieb Szittya viel Experimentelles, weitgehend bestehend aus »sprachlichem Material, das von Neologismen nur so wimmelt und vor avantgardistischer Bildlichkeit und Metaphorik überzuborden scheint« (Walter Fähnders), immer gerichtet gegen den Spieß- und Kleinbürger und dessen eindimensionales Weltverständnis. Und natürlich haben sich seine Bücher auch deshalb nur in sehr überschaubaren Mengen verkauft. Vieles wurde zu seinen Lebzeiten an entlegenen Orten und in Kleinstzeitschriften veröffentlicht. Einiges ist verschollen, wieder anderes blieb unpubliziert. Walter Benjamin schrieb 1928 über ein lange verschollen geglaubtes und erst vor wenigen Jahren wiederaufgefundenes Buch Szittyas, dass er dieses »ebensowenig missen (mochte) wie manche andere verräterische Erstlingsschrift bekannterer Verfasser«.

Szittyas in den 40er Jahren niedergeschriebene autobiografische Aufzeichnungen wiederum, in denen er von seiner Vagabundenzeit und der Phase vor Beginn des Ersten Weltkriegs erzählt, sind leider bisher ungedruckt geblieben. Auch diesen Erinnerungen hat der Autor jedenfalls einen sehr guten Titel gegeben: »Ich bitte um ein Eintrittsbillet oder Haben Sie schon einmal Hunger gehabt?«

Sein Arbeitszimmer in der Pariser Wohnung, in der er lange mit seiner Ehefrau Erika lebte, war ein »fensterloser Raum mit Regalen an den Wänden, die überquollen von Zeitungsausschnitten und Manuskripten«. Einer der darin befindlichen Gegenstände war »die Schreibmaschine, die Franz Jung bei ihnen zurückgelassen hatte, als er während einer seiner zahlreichen Versuche, in den 1940er Jahren ein sicheres Exil zu erreichen, bei ihnen Station gemacht hatte« (Frank Witzel).

1963 erschien Szittyas letztes und seinerzeit kaum beachtetes Buch »82 rêves pendant la guerre 1939–1945«, in dem Träume gesammelt sind. Zusammen mit seiner Frau, die in der Zeit der Résistance in der Küche eines Waisenhauses tätig war, hatte er damals Kinder und Erwachsene, die teils von Krieg und Flucht traumatisiert waren, nach ihren nächtlichen Träumen befragt und diese notiert.

In jüngster Zeit hat dankenswerterweise der Schriftsteller Frank Witzel auf Leben und Werk Szittyas aufmerksam gemacht. In seinem vor Kurzem erschienenen verdienstvollen Buch »Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts«, einer Art autobiografischem Bericht, in dem er erzählend und in Essayform an randständige und übersehene Figuren der Literaturgeschichte erinnert, kommt auch Emil Szittya vor beziehungsweise vor allem dessen Ehefrau Erika.

Witzel traf die Witwe Anfang der 1980er Jahre in Paris zum Gespräch. In seinem Buch berichtet er (gemeint sind hier die Jahre 1939 bis 1964): »Die meisten der folgenden fünfundzwanzig Jahre bis zum Tod ihres Mannes verbrachten beide in mehr oder minder großer Armut. (…) Ihr gemeinsames Leben war von Schicksalsschlägen durchzogen.« In den 1950ern starb ihre einzige Tochter bei einem Autounfall. Und, so erfahren wir: Nach dem Tod ihres Ehemannes fand Erika Szittya eine Kiste mit Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass ihr Mann »über die ganzen Jahre, in denen sie nicht nur in Armut gelebt, sondern oft auch Hunger gelitten hatten, ein Verhältnis zu einer Tänzerin in Berlin unterhalten und diese mit regelmäßigen Geldsendungen unterstützt hatte«.

Am 26. November 1964 starb der Schriftsteller, völlig verarmt. Ein halbes Jahr vor seinem Tod schrieb er in einem Brief: »In einigen Monaten werde ich 78 Jahre alt und habe immer noch materielle Sorgen. Vielleicht bin ich selbst viel schuld daran. Ich war nie sehr geschickt in Geldsachen.«

Ein Nachruf, der in der New Yorker Exilzeitung »Aufbau« publiziert wurde, deklarierte Szittya zu »einem der ältesten Mitglieder der deutschen Boheme der Vor-Hitlerzeit«. Er sei »von der Liebe zu den Künsten besessen« gewesen.

»... seit dem Hitlertum habe ich aufgehört für Deutschland zu arbeiten.«

Emil Szittya
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