Zeitzeuge gegen das Labyrinth des Schweigens

Als Staatsanwalt des Frankfurter Auschwitz-Prozesses verkörpert Gerhard Wiese Erinnerungskultur im besten Sinne

Walter Hotz, Richter und Berichterstatter des ersten Auschwitz-Prozesses (l.) bei der Ortsbegehung in Auschwitz, die mitten im Kalten Krieg unter abenteuerlichen Umständen stattfand
Walter Hotz, Richter und Berichterstatter des ersten Auschwitz-Prozesses (l.) bei der Ortsbegehung in Auschwitz, die mitten im Kalten Krieg unter abenteuerlichen Umständen stattfand

Guido Croxatto kam über »Im Labyrinth des Schweigens« auf Gerhard Wiese. Den Film aus dem Jahre 2014 über die Vorgeschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 bis 1965 sah der 41-jährige argentinische Anwalt zusammen mit seiner Lebensgefährtin im Erscheinungsjahr in Buenos Aires. Danach war für ihn klar: Er wollte Gerhard Wiese treffen, einen der drei jungen Staatsanwälte im Team des Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer, der unbedingt auf Staatsanwälte zurückgreifen wollte, die erst nach der NS-Zeit in den Justizapparat Aufnahme gefunden hatten.

Für den Film, der die Vorgeschichte des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses aus der Sicht eines fiktiven Anklägers erzählt, stand Wiese als Berater Pate. Er erzählte dem Schauspieler Alexander Fehling, der in dem Film den Ankläger spielt, alle Details vom Dienstzimmer bis zu den Schwierigkeiten bei den Ermittlungen. Und sein bemerkenswertes Gedächtnis stellt der inzwischen 96-Jährige, der nach wie vor als Zeitzeuge in Frankfurter Schulen unterwegs ist, auch beim Treffen am 21. Oktober in einem Gründerzeitbau im Frankfurter Stadtteil Dornbusch unter Beweis, in den er kurz nach seiner Heirat 1960 eingezogen ist und nach dem Auszug der drei Kinder und dem Tod seiner Frau inzwischen alleine bewohnt. Seine sechs Enkel sorgen allerdings bei den regelmäßigen Familienbesuchen für Abwechslung, ergänzt Wiese.

Fritz Bauer lernte Wiese bereits 1956 als Gerichtsreferendar kennen. Es war das Jahr, in dem der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn, ein Sozialdemokrat wie Bauer, den renommierten Juristen von Braunschweig nach Frankfurt lockte. »Bauer wollte alle Gerichtsreferendare bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt persönlich kennenlernen.« An den Besuch im völlig verräucherten Dienstzimmer des Kettenrauchers Bauer erinnert sich Wiese als sei es gestern gewesen. »Als Bauer hörte, dass ich Berliner bin, kam sofort die Frage: Was wird aus der Gedächtniskirche?« In Berlin habe damals eine heiße Debatte darüber getobt, ob die Kirche wieder neu errichtet oder abgerissen werden sollte. Für Wiese, Berliner in vierter Generation, war die Antwort klar: »Die Gedächtniskirche muss wieder hergerichtet werden.« Bauer gab Kontra: »Das ist Quatsch, alles muss weg, der ganze Breitscheidplatz muss neu gestaltet werden.« Einig wurden sich Bauer und Wiese nicht.

Ohne die Initiative Bauers wäre der Auschwitz-Prozess nie in Frankfurt gelandet, ist sich Wiese sicher. Denn der Ausgangspunkt lag in Stuttgart. Dort hatte ein ehemaliger Häftling Strafanzeige gegen Wilhelm Boger erstattet, der im Bezirk Stuttgart als Buchhalter tätig war, aber vor allem als »Bestie von Auschwitz« bekannt ist. »Nach der Anzeige wurde gegen Boger in Stuttgart ermittelt, er wurde verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Als Bauer davon Wind bekam, wollte er das Stuttgarter Verfahren nach Frankfurt holen.« Zuerst sei er beim Landgericht auf Widerstand gestoßen, so einen großen Prozess können wir nicht bewältigen, hieß es dort. »Doch man weiß aus dem Film ›Im Labyrinth des Schweigens‹, wie es dann doch noch geklappt hat«, erzählt Wiese. Bauer kam über den Journalisten Thomas Gnielka von der »Frankfurter Rundschau« an Aufzeichnungen aus dem KZ Auschwitz, die er von einem Häftling erhalten hatte. Darunter befanden sich detaillierte Erschießungslisten. Damit initiierte Bauer ein neues Ermittlungsverfahren und beantragte beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, die Auschwitz-Verfahren in Frankfurt zu bündeln. Karlsruhe stimmte zu und ebnete damit den Weg für den Frankfurter Jahrhundertprozess, für das umfangreichste Strafverfahren der Bundesrepublik. 22 Männer, die im Konzentrationslager Auschwitz ihren Dienst absolviert hatten, saßen auf der Anklagebank, 359 Zeugen berichteten von den grausamen Zuständen im deutschen Vernichtungslager auf polnischem Boden.

Die Ermittlungen begannen 1958. »Bauer beauftragte zwei junge Kollegen damit, Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel, beide Jahrgang 1927«, führt Wiese aus. Ermittlungen unter Bedingungen, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann: »Kein PC, kein Internet, kein Drucker, kein Sortierer, alles musste schriftlich oder per Telefon erfragt werden«, beschreibt Wiese die Arbeitsumstände. Wiese stieß 1962 nach den Vorermittlungen als Unterstützung zum Team dazu, weil die Anklageschrift für 22 Beschuldigte auszuarbeiten, von Kügler und Vogel alleine nicht zu bewältigen war. »Als Morgengabe bekam ich gleich die beiden übelsten SS-Täter – SS-Oberscharführer Wilhelm Boger und den Rapportführer Oswald Kaduk – zugeteilt und musste für die die Anklageschrift fertigen.« In den vier Jahren hätten sich Aktenberge von 55 Bänden angesammelt, die Wiese gar nicht sinnvoll bearbeiten konnte. »Aber für jeden Beschuldigten hatten die Kollegen ein Sonderheft angelegt, mit dem Haftbefehl, der Vernehmung und Zeugen, die ihn belasteten oder entlasteten und Dokumenten, insofern welche vorlagen.«

Internationale Hilfe

Unterlagen waren spärlich, einen Teil hatte die SS noch vor der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 vernichtet, einen Teil hatten die Rotarmisten nach Moskau mitgenommen. »Anfragen in Moskau nach Unterlagen blieben ohne Antwort«, macht Wiese auf Schwierigkeiten bei den Ermittlungen aufmerksam. »Wir waren weitgehend auf Zeugenaussagen angewiesen.« Ein Zeuge sei besonders hilfreich gewesen: Hermann Langbein aus Wien. »Langbein war selbst Häftling in Auschwitz, hatte aber eine besondere Funktion: Schreiber beim SS-Standortarzt. Das verschaffte ihm Informationen, die andere Häftlinge nicht hatten.« Der Gründer des Internationalen Auschwitz-Komitees arbeitete aus Wien den Anklägern in Frankfurt zu: »Er hat uns sehr geholfen, indem er nach Kriegsende seine Mithäftlinge angeschrieben und gefragt hat, ob sie kriminelle Handlungen von SS-Leuten mit Namensnennung beschreiben könnten. Die Antworten schickte er uns dann nach Frankfurt.«

Eine zweite wichtige Unterstützung kam aus Polen. »Professor Jan Sehn war von Hause aus Kriminologe an der Universität Krakau und hat den Prozess zur Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in Polen vorbereitet, wo 35 SS-Leute angeklagt waren«, schildert Wiese. »Mit Sehn haben wir bestens zusammengearbeitet, er war oft in Frankfurt und hat Material auch über die von ihm vernommenen Zeugen gebracht.« Aber vor allem ist es der Vermittlung des deutschstämmigen Sehn zu verdanken, dass mitten im Kalten Krieg eine Ortsbesichtigung in Auschwitz stattfinden konnte. Den Antrag auf Ortsbesichtigung hatte der jüdische Anwalt Henry Ormond gestellt, der ein gutes Dutzend überlebende Häftlinge beziehungsweise Angehörige vertrat. Der Antrag habe großes Erstaunen ausgelöst. »Keine diplomatischen Beziehungen zwischen Warschau und Bonn, wie soll das gehen?«

Dann kam Sehn ins Spiel: »Er reiste mit dem Gerichtsvorsitzenden nach Bonn und handelte einen Vertrag aus: freies Geleit nach Auschwitz und freie Hand für die Gerichtsdelegation dort, um alles zu sehen und zu machen, was sie für nötig befindet.« Das sei was ganz Neues gewesen, ein Vertrag sui generis, einer der nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist, erläutert Wiese. »Doch es stellte sich die Frage: Wie im Sommer 1964 nach Auschwitz kommen? Eisenbahnfahrt durch die DDR schied aus, es blieb nur der Luftweg, entweder von Kopenhagen oder aus Wien.«

Wegen wetterbedingter Verspätung sei der Linienflug in Wien verpasst worden, sodass es dann mit einer Chartermaschine für 10 000 DM am Sonntag nach Warschau ging – bereits der dritte Reisetag. »Wir standen unter enormem Zeitdruck. Die damalige Strafprozessordnung erlaubte nur eine einmalige Unterbrechung der Hauptverhandlung für zehn Tage, heute ist das lockerer«, blickt Wiese zurück. Knapp 50 Personen, überwiegend Anwälte, aber auch ein Gerichtswachtmeister und eine Dolmetscherin gehörten zur Reisegruppe, die via Warschau per Bus nach Krakau und von dort nach Auschwitz gekarrt wurde. »Montagfrüh wurden wir von Professor Sehn dort empfangen. Er schloss seine Begrüßungsrede mit den Worten: ›Bitte, Richter Hotz, walten Sie ihres Amtes.‹« Walter Hotz war Richter und Berichterstatter des ersten Auschwitz-Prozesses.

Vor Ort hätten sie versucht, die Dinge zu klären, die bei Zeugenaussagen zu ungenau waren, zum Beispiel, ob aus einem bestimmten Block die Erschießungen an der schwarzen Wand überhaupt gesehen werden konnten, ob man Schreie aus dem Block 11 draußen hören könnte? »Beides war der Fall«, erinnert sich Wiese. »Wir konnten das, was zu prüfen war, prüfen.« Die Ortsbesichtigung war ein Erfolg. Bei der ersten Verhandlung 1965 seien das Protokoll der Ortsbesichtigung und die Bilder zum Gegenstand der Verhandlung gemacht und damit Gegenstand des Verfahrens geworden. Danach liefen die Zeugenaussagen weiter.

Die Beweise haben nicht gereicht

Im Frühsommer sei es zu einer Besprechung bei Fritz Bauer gekommen. »Da wurde besprochen, dass Auschwitz und seine Nebenlager, seine ganzen Einrichtungen als eine industrielle Vernichtungsanlage betrachtet werden. Mit der Folge, dass jeder, der daran mitgewirkt hat, sich wenigstens wegen Beihilfe strafbar gemacht hat.«

Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung beantragte die Staatsanwaltschaft lebenslang für alle Angeklagten, von denen zwei der 22 aufgrund von Krankheit aus dem Prozess ausgeschieden waren. »Ende August kam das Urteil: Von den 20 Angeklagten bekamen nur sechs lebenslang. Capesius bekam nur acht Jahre, das hat uns besonders gefuchst.«

Gefuchst hat das Wiese und Kollegen, weil eine Zeugenaussage allen besonders in Erinnerung geblieben ist, in der Capesius eine zentrale Rolle spielte. Die Aussage von Mauritius Berner. Der jüdische Ungar kam zusammen mit seiner Frau und den drei kleinen Töchtern, darunter zweieiige Zwillinge, im Juli 1944 nach Auschwitz. »Bei der Ankunft gab es immer dasselbe Prinzip, Männer links, Frauen und Kinder rechts. Die beiden Gruppen liefen dann auf die Rampe zu, dort entschied der SS-Offizier: Gas oder Lager. Dr. Berner erkannte auf der Rampe einen der SS-Männer, den Apotheker Victor Capesius, der ihn als Vertreter der IG-Farben in der Zwischenkriegszeit öfters in seiner Arztpraxis besucht hatte und von dem er sogar eine Visitenkarte bei sich hatte. ›Herr Offizier, wir kennen uns, können Sie dafür sorgen, dass meine Familie zusammenbleiben kann?‹ Der SS-Offizier ließ die Zwillinge kommen, brachte sie zu Dr. Josef Mengele, der ebenfalls auf der Rampe tätig war, der schüttelte den Kopf, die Zwillinge, die dritte Tochter und die Mutter wurden ins Gas geschickt, Dr. Berner kam ins Lager, wurde Häftlingsarzt und hat dort mit seinen bescheidenen Mitteln versucht, seinen Mithäftlingen zu helfen.«

Interessiert am Austausch: Menschenrechtsanwalt Guido Croxatto (l.) und Staatsanwalt Gerhard Wiese beim Treffen in Frankfurt
Interessiert am Austausch: Menschenrechtsanwalt Guido Croxatto (l.) und Staatsanwalt Gerhard Wiese beim Treffen in Frankfurt

Richtig laut sei es im Gerichtssaal ohnehin nie gewesen, aber nach der Zeugenaussage von Berner habe gewissermaßen Totenstille geherrscht und es einige Zeit gedauert, bis der übliche geringe Geräuschpegel wieder erreicht wurde, beschreibt Wiese die Szenerie. Und dieser Capesius kam mit acht Jahren davon.

»Zu Capesius’ Aufgabengebiet gehörte es auch, die von den Häftlingen ausgebrochenen Goldzähne nach Berlin zu transportieren. Nach dem Krieg hatte er nicht nur eine Apotheke, sondern auch einen Schönheitssalon eröffnet. Wir hatten den starken Verdacht, dass von den Goldzähnen einiges an ihm kleben geblieben ist.« Beweisen konnten Wiese und seine Kollegen das allerdings leider nicht.

Das Gericht folgte in Frankfurt der engen Auslegung des Strafrechts, wonach jedem Täter direkt seine Tat nachgewiesen werden musste. Der von den Staatsanwälten aufgestellten Theorie, jeder, der in Auschwitz tätig war, ist zumindest Mittäter wegen Beihilfe, folgten die Richter nicht. So kam es auch zu drei Freisprüchen. »Wir haben natürlich gehofft, dass es für alle ausreicht«, sagt Wiese. Aber die Beweise hätten eben nicht gereicht.

»Mit den Urteilen war Bauer nicht zufrieden, wir auch nicht, aber am Strafmaß zu rütteln, ist immer sehr schwierig«, sagt Wiese. Die Staatsanwaltschaft ging in die Revision, doch der Einspruch wurde 1969 zurückgewiesen und der Prozess damit rechtskräftig abgeschlossen.

Wichtig für die Gerechtigkeit

Es dauerte lange, bis sich die Rechtsauffassung von Bauer und seinen Kollegen durchsetzte. »Erst das Schwurgericht München 2 folgte diesem Ansatz im Fall von John Demjanjuk. Der Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor in Polen wurde 2011 ohne konkreten Tatnachweis zu fünf Jahren Haft verurteilt.« Rechtskräftig wurde dieses Urteil nicht, weil der gebürtige Ukrainer 2012 vor dem Abschluss des Revisionsverfahrens verstarb. »Die Zentralstelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen hat dieses Urteil aufgegriffen und Nachschau gehalten: Was haben wir denn noch an NS-Leuten da?« Die noch lebenden Täter und Mittäter seien den entsprechenden Staatsanwaltschaften gemeldet worden, und so seien noch einige Prozesse in Gang gekommen.

Herausragend sei der Fall Gröning gewesen, der sogenannte »Buchhalter von Auschwitz«. Der damals 94-jährige frühere SS-Mann wurde 2015 in Lüneburg der Beihilfe zum Mord in mehr als 300 000 Fällen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau für schuldig befunden. Es sei die eigene Entscheidung des Angeklagten gewesen, in Auschwitz Dienst zu tun, so das Gericht. »Gröning führte ein Häftlingskommando, das aus den Waggons das Gepäck ausladen sollte«, erzählt Wiese. Das Urteil gegen ihn wurde 2016 rechtskräftig, nachdem der dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision verworfen hatte. »Damit ist unsere Rechtsauffassung der Mittäterschaft höchstrichterlich bestätigt worden. Aber das kam alles viel zu spät. Die Beschuldigten, die jetzt noch lebten, waren alle über 90. Viel hat sich durch Krankheit oder Tod selbst erledigt.«

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Für den argentinischen Menschenrechtsanwalt Croxatto ist Wiese ein Vorbild. »Er hat mit seinem Wirken mehr für die Gerechtigkeit und Menschenrechte bewirkt als die meisten Jura-Professoren, bei denen ich studiert habe«, sagt der Argentinier, der mit mehreren Stipendien in Deutschland studiert und promoviert hat. »Vom Auschwitz-Prozess habe ich dabei nie etwas gehört.« Auch Thomas Duve, der deutsche Rechtshistoriker von der Max-Planck-Gesellschaft habe ihm auf Nachfrage gesagt, dass der Name Wiese ihm nichts sage. Croxatto ist Direktor der argentinischen Anwaltskammer Escuela del Cuerpo de Abogados del Estado (ECAE) und koordiniert die Verteidigung des peruanischen Präsidenten Pedro Castillo, der seit Ende 2022 unter dem Vorwurf der Rebellion und Verschwörung in Untersuchungshaft sitzt. Wenn er Wiese aus Versehen Professor nennt, wehrt dieser ab: »Ich bin kein Professor.« – »Ja, aber Sie sind für die Gerechtigkeit wichtiger als die Professoren, die Rechtstheorie nur lehren«, entschuldigt Croxatto seinen Versprecher.

Croxatto kam zum Treffen bei Wiese vom Frühstück aus dem Club Voltaire, einer bekannten Kulturkneipe in Frankfurt am Main. »Fritz Bauer war da oft, hat die Jugend für die Bedeutung der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu gewinnen versucht«, erzählt Wiese, der den Club selbst nur vom Hörensagen kennt. Doch diesem Ansatz bleibt er selbst noch mit 96 Jahren treu: Seit er 1993 in den Unruhestand ging, wurde er für Gastvorträge an Universitäten angefragt; auf Marburg folgten Gießen, Kassel, Halle, Göttingen und Dresden, zählt er auf. Und 2018 zum 70. Jahrestag der Gründung von Hessen sei eine Liste von bekannten Politikern, Sportlern, Juristen des Bundeslandes an die Schulen verteilt worden, die sie als Zeitzeugen einladen konnten. Wiese – seit Juli 2024 auch Ehrendoktor der Goethe-Universität in Frankfurt – stand auf der Liste und ist viel gefragt, die Anne-Frank-Stiftung koordiniert die Besuche.

»Derzeit sind Herbstferien, drei Schulen sind im Moment noch offen, da müssen Termine vereinbart werden.« Er steht dafür auf alle Fälle bereit, solange es geht. Und Guido Croxatto, der ihm den Bericht »Nunca más« (Niemals mehr) über die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976–83) überreicht, der 1984 unter Federführung des Schriftstellers Ernesto Sábato veröffentlicht wurde, will wiederkommen. »Nächstes Jahr besuch ich Sie mit Baltasar Garzón zusammen.« Den Pinochet-Jäger Baltasar Garzón hatte Croxatto vor Wiese in Madrid besucht. Der kann im Gegensatz zu Croxatto kein Deutsch und Wiese kein Spanisch. »Kein Problem«, meint Wiese, »meine Tochter kann Spanisch, die ist mit einem Professor in Salamanca verheiratet.« Die Übersetzung ist gesichert und einem erneuten Treffen steht nichts im Wege. Denn das Labyrinth des Schweigens muss für immer durchbrochen werden.

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