Überfluss macht Krise

Einst galt Stahl als Symbol der Industrie schlechthin. Heute gibt es weltweit viel zu viel davon. Unternehmen und Standorte kämpfen um ihre Position

Thyssen-Krupp in Duisburg: Arbeit am Hochofen 8
Thyssen-Krupp in Duisburg: Arbeit am Hochofen 8

Seit der Industrialisierung galt die Stahlproduktion lange als Ausweis für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Heute haben andere Werkstoffe Stahl ersetzt, und mit dem Ende der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet war die deutsche Montanindustrie aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Doch der Eindruck täuscht: Deutschland ist weiter der mit Abstand größte Stahlerzeuger in der EU. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Wirtschaftsverbandes Stahl rund 35 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt und über 50 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet.

Deutschland ist allerdings global nur ein mittelgroßer Spieler, steht an siebter Stelle im globalen Länderranking. Mit der Abwanderung der »schmutzigen« Industrien nach Asien, Mittel- und Osteuropa entstanden neue Stahlgiganten, die heute dort die Luft verpesten. Der rasante ökonomische Aufstieg vieler Staaten im Globalen Süden hat den Stahlbedarf in Bauwirtschaft und Industrie in die Höhe getrieben. China stellte vergangenes Jahr 1019 Millionen Tonnen Stahl her, das war laut World Steel Association mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion. Die globale Nummer zwei, Indien, kam gerade mal auf 140 Millionen Tonnen.

Thyssen-Krupp: Expansion bringt Milliardenverluste

Europas größter Stahlkonzern, Thyssen-Krupp, versuchte dem Trend zu begegnen und in neue Absatzmärkte zu expandieren. 2005 hatte der Konzern beschlossen, in Alabama (USA) und in Rio de Janeiro (Brasilien) zwei große Stahlwerke zu errichten. Erste Planungen gingen von kaum mehr als einer Milliarde Euro Kosten aus. Doch technisch notwendige Erweiterungen, Probleme bei der Umsetzung von Umweltauflagen und der schleppende Absatz der Produkte verteuerten das Projekt rasant. 2014 wurde das Werk in Alabama an die indische Arcelor-Mittal und Nippon Steel verkauft, 2017 das Werk in Rio an die argentinische Ternium. Unter Strich blieb ein Verlust von etwa acht Milliarden Euro.

China wurde zum Problem für die Konkurrenz in Europa, USA und bald auch Asien, weil die aufstrebende Industrienation seit längerem nicht mehr sämtlichen Stahl im Lande verbraucht, sondern anfing zu exportieren. Die sinkende Nachfrage vor allem der kriselnden Bauindustrie Chinas, dem wichtigsten Stahl-Abnehmer, hat dazu beigetragen, dass sich die Exporte der Volksrepublik seit 2022 mehr als verdoppelt haben. Chinas Überschuss beträgt mittlerweile rund 100 Millionen Tonnen pro Jahr, die ausgeführt werden, soweit es international Nachfrage gibt. Andererseits importiert China teure hochwertige Stähle, laut Nachrichtenagentur Xinhua waren es rund 20 Millionen Tonnen. Insofern scheint die »rote Gefahr«, die von Lobbyisten in Europa und den USA an die Wand gemalt wird, übertrieben zu sein. Von Peking üppig bezuschusst sind vor allem Massenstähle aus chinesischen Werken trotz vergleichsweise hoher Transportkosten weltweit wettbewerbsfähig.

»Der Umbau der Branche geht ohne Steuermilliarden.«

Jürgen Großmann 
Gesellschafter der Georgsmarienhütte

Dessen ungeachtet sind es die globalen Überkapazitäten, welche die Branche schwer belasten. Ein strukturelles Problem, das über Jahrzehnte mit der Industrialisierung des Globalen Südens und dem zunehmenden globalen Konsum aufwuchs. Fachleute sprechen heute von 500 Millionen Tonnen Überkapazität. Und die OECD erwartet weiteren Zubau von Stahlwerken, vor allem in Schwellenländern. Noch immer gilt der Politik: Die Stahlproduktion ist Ausweis der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. In der Folge sind viele Werke zu gering ausgelastet, was die Stückkosten in die Höhe treibt. Zugleich drücken die Überkapazitäten weltweit auf den Preis. Doch Stahl ist nicht gleich Stahl. Über 2500 Sorten für verschiedenste Anwendungen werden produziert: vom Grobblech für Brücken- und Schiffbau bis zum feinsten Draht. »Doch nicht jeder Stahlkonzern muss alles herstellen«, kritisiert Jürgen Großmann in einem Aufsatz die Strategie seiner Managerkollegen. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der RWE ist Gesellschafter der Georgsmarienhütte Gruppe. Der vergleichsweise kleine Konzern mit 1200 Beschäftigten hat sich – als die große Thyssen-Krupp (etwa 30 000 Stahljobs) auf die traditionell schwankungsanfällige Branchenkonjunktur mit globalen Expansionsplänen reagierte – auf »Edelstahllangprodukte« spezialisiert und gilt heute als führendes Unternehmen in seinem Segment.

Wie Stahl »grün« wird

Dazu trug bei, dass Georgsmarienhütte auf emissionsarme und effiziente Elektroöfen setzte und seinen energieintensiven Hochofen stilllegte. Die Stahlproduktion mit Strom ermöglicht heute eine CO2-arme Produktion, wenn der Strom »grün« wird. Zwei Dutzend Elektrostahlwerke produzieren in der Bundesrepublik. »Der Umbau der Branche geht ohne Steuermilliarden, wie das Beispiel Georgsmarienhütte zeigt«, schreibt Großmann. Der Bund hat sieben Milliarden Euro für die grüne Transformation der »großen Vier« zugesagt: Arcelor-Mittal, Thyssen-Krupp, Hüttenwerke Krupp Mannesmann und Salzgitter.

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Stahl ist historisch ein ökologischer Vorreiter. Schon immer wird ein Großteil des neuen Stahls aus altem Schrott hergestellt. Allerdings reichen diese Mengen nicht aus. In diese Lücke springen »integrierte Hüttenwerke«, welche die gesamte Wertschöpfungskette abdecken, also aus Eisenerz Eisenschwamm und dann Rohstahl und Fertigprodukte wie Draht erzeugen. Die schrittweise Umrüstung der acht Werke der »großen Vier« auf CO2-neutrale Herstellungsprozesse bis 2050 stellt diese Konzerne vor zusätzliche finanzielle und technische Herausforderungen.

Schwierigkeiten bereiten obendrein die Strukturkrise der Automobilindustrie und die konjunkturelle Delle der Bauwirtschaft. Beide Branchen sind die wichtigsten Abnehmer deutscher Stahlerzeugnisse. Ergebnis: Laut Statistischem Bundesamt sank der Auftragseingang in der Stahlindustrie zwischen drittem Quartal und dem gleichen Vorjahresquartal um fast zehn Prozent. Dabei wären die hiesigen Stahlwerker weit leistungsfähiger.

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