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Acht eigentümliche Eigentümerwechsel
Glossen von nd-Autor*innen zum Thema Nehmen und Geben
Ebay-Quälanzeigen – Patrick Volknant bittet um mehr Nachsicht auf Second-Hand-Plattformen
Wenn man sich mal so umschaut in der Welt, herrscht eigentlich überall ein Geben und Nehmen – Arbeit für Lohn, Waren für Geld, eine Hand wäscht die andere. Was selbstverständlich scheint, hat aber spezifische soziale Bedingungen mit enormen Konsequenzen. Dass beim Tausch Gleiches unter Gleichen gegeben und genommen wird, setzt ein Maß voraus, in Bezug auf das alles gleich ist: ein universelles Äquivalent.
»Das ist mir gleich«, sagt das Geld zu allen Waren, so wie ich es zu etwas sage, das mir egal ist. Äquivalenz ist Indifferenz: gleichgültig, austauschbar – und mir ein Ebenbild. Denn während die warenproduzierende Gesellschaft immer mehr Dinge als Ware produzieren musste, damit immer mehr getauscht werden kann, weil sich nur im Tausch der Dinge ihr Wert als Tauschwert realisiert, mussten wir alle ein Stück weit Ware werden.
Das betrifft längst nicht nur jene Ware Arbeitskraft, die bekanntermaßen zum Markte getragen werden muss. Die Märkte haben sich erweitert: das Social-Media-Profil, das persönliche Wachstum durch Ratgeber und Psychologie-Podcasts, der eigene Style und die Distinktion durch Film-, Musik- und Seriengeschmack sind alles Momente einer warenförmigen Subjektivität. So wie sich die Waren als einzigartig und besonders darstellen müssen, obwohl ihr »Wert« doch nur durch das universelle Äquivalent besteht, so scheinen auch die Subjekte einzigartig und erweisen sich als erschreckend normierte Charaktertypen.
Zu merken, dass die eigene Einzigartigkeit zu großen Teilen bürgerliche Ideologie ist, tut weh. Um die Kränkung abzuwehren, haben sich gemeinhin zwei Rezepte durchgesetzt: bürgerliche Kälte und romantische Liebe. Während das eine die Abhärtung inklusive aller autoritären Regungen umfasst (sich anpassen und Andersartigkeit an anderen bestrafen wollen – man denke an Transfeindlichkeit), ist zweiteres die Fantasie, es gäbe den einen Partner, den Topf zum Deckel, der im Privaten für all das Elend entschädigen soll, als fühlendes Wesen nur ein Warenobjekt sein zu müssen.
Aber wer Liebe sucht, landet auch nur auf einem Markt. Beim Dating muss man heutzutage einzigartig und austauschbar genug sein, um binnen Sekunden auf Tauglichkeit bewertet zu werden. Man will »boyfriend/girlfriend material« sein, wie man in den Datingsendungen des Reality-TV lernt – ganz Besondere schaffen es zum »wifey/husband material«. Die Menschen kennen ihren Wert, aber dass sie sich als Material für soziale Funktionen wie Beziehungspartner oder Ehefrau verstehen, ist genau genommen das Ende der Subjektivität.
All dieses Elend kommt zum »Fest der Liebe« zusammen: Die Kälte bleibt draußen, während es im Heimischen schön warm sein soll; aber die Liebsten werden anerkannt, indem mit ihnen Geschenke ausgetauscht werden – für den Herren das Rasierset oder die Socken, für die Damen Schmuck oder »Beauty« oder was auch immer. Diese kleinen Gesten der Demütigung lassen erahnen, wie wenig Liebe und Freiheit es gibt, wo Äquivalenz herrscht.
Verkehrte Welt – Tanja Röckemann findet, im Kapitalismus werden Worte verdreht
Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich im Wesen nicht aus durch die bewusste Vertuschung ihrer üblen Zwecke. Grundsätzlich sind sämtliche Informationen über den desaströsen Stand der Dinge verfügbar; das Herrschaftspersonal regiert nicht per Verschwörung, sondern mit den legalen Mitteln des Staates, gibt offen zu, dass es dies letztlich der Ermöglichung von Profitakkumulation zuliebe tut, und hält auch mit offener Menschenfeindlichkeit immer weniger hinterm Berg. Wenn all das der Fall ist, so die berechtigte Frage von links: Warum zur Hölle machen so viele Menschen, die durchaus keine großen Nutznießer*innen des Kapitalismus sind, so bereitwillig mit? Nicht nur das, sondern verteidigen dieses Unheilsystem gar mit Zähnen und Klauen? So ganz wird mir das trotz allen theoretischen Instrumentariums, das zur Klärung dieser Frage zur Verfügung steht, wohl niemals einleuchten.
Aber es machen ja gar nicht alle bereitwillig mit. Und ein wichtiges Stichwort in Hinblick auf die Stabilisierung des Bestehenden lautet: Ideologie. Denn obwohl wir nicht Opfer einer Weltverschwörung sind, ist im Kapitalismus durchaus nicht alles, wie es scheint. Das gilt fürs Materielle, etwa den Äquivalententausch, von dem wie von Zauberhand doch immer diejenigen profitieren, die eh schon was haben.
Aber die Ideologie hockt auch in der Sprache, und ein schönes Beispiel hierfür ist das deutsche Begriffspaar »Arbeitgeber*in« und »Arbeitnehmer*in«: eine propagandistische Frechheit, die den zentralen Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft, das Lohnarbeitsverhältnis, zugunsten des Kapitals umdeutet. Denn mit »Arbeitnehmer*innen« sind nicht etwa jene gemeint, die die Arbeit der anderen nehmen, um daraus Profit zu schlagen und sich selbst zu bereichern. Ganz im Gegenteil heißen die Kapitalist*innen hierzulande »Arbeitgeber*innen« und erscheinen somit als großzügige Geber nicht nur der materiellen Existenz, sondern gleich auch des Lebenssinns.
Entgegen meiner Annahme gehen diese frech verschleiernden Wortschöpfungen übrigens nicht aufs Konto des Nationalsozialismus, sondern stammen aus dem mittleren 19. Jahrhundert, der Aufstiegszeit der bürgerlichen Gesellschaft. Aber dass gerade auch der Faschismus den Kapitalismus am Laufen halten soll, und zwar maßgeblich durch die besonders gewaltvolle Stillstellung des Klassenwiderspruchs, kann in Zeiten des globalen Rechtsrucks durchaus betont werden. Der sowjetische Revolutionär Leo Trotzki schrieb 1933 in seinem gruselig zeitgemäßen »Portrait des Nationalsozialismus«: »Der erste Jahrestag der Nazidiktatur steht bevor. Alle Tendenzen des Regimes haben sich inzwischen klar und deutlich entfalten können. … Die Klassenverbrüderung gipfelt darin, daß – an einem eigens von der Regierung bestimmten Tage – die Reichen zugunsten der Armen auf Vor- und Nachtisch verzichten.« Klingt doch geradezu weihnachtlich, oder?
Eigentum als Albtraum – Raul Zelik schenkt aus pragmatischen Gründen
Manchmal kann Eigentum zum Albtraum werden. Bei mir zum Beispiel das Auto. Angeschafft hatte ich es mir »wegen der Freiheit«. Das war natürlich falsch gedacht: Wenn man Berlin mit dem Auto verlassen will, sollte man seine Abfahrtszeit gut planen, wenn man nicht stundenlang im Stau stehen will. Aber da hatte ich den Wagen bereits, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Erst traten mir irgendwelche Spaßvögel die Heckscheibe ein, dann ließ eine Filmproduktion wegen Dreharbeiten in unserer Straße sämtliche Fahrzeuge kurzerhand abschleppen. Vor diesem Hintergrund verzichtete ich fortan, wenn ich einmal einen Parkplatz ergattert hatte, auf unnötige Ausflüge. Leider stellte sich auch das als falsche Entscheidung heraus: Wegen des seltenen Gebrauchs rosteten die Bremsscheiben meines Pkw fest und mussten vorzeitig ersetzt werden.
Um den Wagen mehr zu bewegen, überließ ich ihn nun regelmäßiger der Verwandtschaft – was mir den Sommer über diverse Knöllchen bescherte. Als es wiederum kälter wurde, nahm mit der Zahl der Ausflüge der Familie zwar auch die der Strafzettel ab. Dafür jedoch kehrte das alte Problem zurück: Nach längerem Stillstand ging die Batterie in die Knie.
Ich beschloss, den Wagen zu veräußern! Doch ein Pkw-Verkauf will ordentlich vorbereitet sein. Man benötigt eine gute Präsentation, für die das Auto frisch gereinigt und gewartet sein sollte. Ich schob das Vorhaben einige Wochen auf und unternahm, wie zum Abschied, eine letzte, längere Reise.
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Das Parkplatzproblem in der angesteuerten südeuropäischen Metropole antizipierend stellte ich den Wagen nach langer Fahrt in einem Vorort ab und stieg in den Zug um. Doch als ich den Pkw wenige Tage später wieder abholen wollte, musste ich feststellen, dass mir Unbekannte einen Reifen zerstochen hatten. Noch während ich das Ersatzrad montierte, recherchierte ich letzte Fragen des geplanten Verkaufs: Wie verhindert man, dass einem bei Barzahlung Blüten untergejubelt werden?
Kurz bevor ich dann endlich die Online-Anzeige schalten konnte, kam eine erneute Arbeitsreise dazwischen. Aus Schaden klug geworden, bat ich eine Redaktionskollegin, mögliche TV-Produktionen in unserem Viertel im Blick zu behalten. Doch wieder umsonst! Während meiner Abwesenheit war eine Fortsetzung des Krimis gedreht und das Auto ein zweites Mal abgeschleppt worden – die Kollegin hatte nur unsere Zeitung im Blick gehabt. Und damit nicht genug: Nach dem Umsetzen wurde auch die Heckscheibe noch einmal zertrümmert.
Wie groß war meine Erleichterung, als eine Freundin berichtete, sie suche ein Auto. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und schenkte ihr meines. Viele preisen Geschenke als Freundschaftsbeweise. Aber manchmal sind sie auch nur einfach ein Mittel, um dem Albtraum des Eigentums ein Ende zu setzen. Frohe Weihnachten!
Das ist mir gleich – Alex Struwe über das Verhängnis des Äquivalententauschs
Wenn man sich mal so umschaut in der Welt, herrscht eigentlich überall ein Geben und Nehmen – Arbeit für Lohn, Waren für Geld, eine Hand wäscht die andere. Was selbstverständlich scheint, hat aber spezifische soziale Bedingungen mit enormen Konsequenzen. Dass beim Tausch Gleiches unter Gleichen gegeben und genommen wird, setzt ein Maß voraus, in Bezug auf das alles gleich ist: ein universelles Äquivalent.
»Das ist mir gleich«, sagt das Geld zu allen Waren, so wie ich es zu etwas sage, das mir egal ist. Äquivalenz ist Indifferenz: gleichgültig, austauschbar – und mir ein Ebenbild. Denn während die warenproduzierende Gesellschaft immer mehr Dinge als Ware produzieren musste, damit immer mehr getauscht werden kann, weil sich nur im Tausch der Dinge ihr Wert als Tauschwert realisiert, mussten wir alle ein Stück weit Ware werden.
Das betrifft längst nicht nur jene Ware Arbeitskraft, die bekanntermaßen zum Markte getragen werden muss. Die Märkte haben sich erweitert: das Social-Media-Profil, das persönliche Wachstum durch Ratgeber und Psychologie-Podcasts, der eigene Style und die Distinktion durch Film-, Musik- und Seriengeschmack sind alles Momente einer warenförmigen Subjektivität. So wie sich die Waren als einzigartig und besonders darstellen müssen, obwohl ihr »Wert« doch nur durch das universelle Äquivalent besteht, so scheinen auch die Subjekte einzigartig und erweisen sich als erschreckend normierte Charaktertypen.
Zu merken, dass die eigene Einzigartigkeit zu großen Teilen bürgerliche Ideologie ist, tut weh. Um die Kränkung abzuwehren, haben sich gemeinhin zwei Rezepte durchgesetzt: bürgerliche Kälte und romantische Liebe. Während das eine die Abhärtung inklusive aller autoritären Regungen umfasst (sich anpassen und Andersartigkeit an anderen bestrafen wollen – man denke an Transfeindlichkeit), ist zweiteres die Fantasie, es gäbe den einen Partner, den Topf zum Deckel, der im Privaten für all das Elend entschädigen soll, als fühlendes Wesen nur ein Warenobjekt sein zu müssen.
Aber wer Liebe sucht, landet auch nur auf einem Markt. Beim Dating muss man heutzutage einzigartig und austauschbar genug sein, um binnen Sekunden auf Tauglichkeit bewertet zu werden. Man will »boyfriend/girlfriend material« sein, wie man in den Datingsendungen des Reality-TV lernt – ganz Besondere schaffen es zum »wifey/husband material«. Die Menschen kennen ihren Wert, aber dass sie sich als Material für soziale Funktionen wie Beziehungspartner oder Ehefrau verstehen, ist genau genommen das Ende der Subjektivität.
All dieses Elend kommt zum »Fest der Liebe« zusammen: Die Kälte bleibt draußen, während es im Heimischen schön warm sein soll; aber die Liebsten werden anerkannt, indem mit ihnen Geschenke ausgetauscht werden – für den Herren das Rasierset oder die Socken, für die Damen Schmuck oder »Beauty« oder was auch immer. Diese kleinen Gesten der Demütigung lassen erahnen, wie wenig Liebe und Freiheit es gibt, wo Äquivalenz herrscht.
Nehmen ist seliger – Lotte Laloire findet, dass oft die Falschen bescheiden sind
Weihnachten ist das Fest der Liebe, und ich liebe meine Freunde wirklich sehr, aber … Manche sind einfach schlimm! Man kann ihnen nichts schenken. Neulich wollte ich einer Freundin zu ihrem Geburtstag ein Festmahl kochen, sie sollte die Beine hochlegen und genießen. Konnte sie nicht. Der letzte Bissen war noch nicht durch die Speiseröhre gerutscht, da ist sie aufgesprungen, hat den Tisch ab-, die Spülmaschine eingeräumt und so weiter. Sie wollte »etwas zurückgeben«. Abgesehen davon, dass ich das etwas ungemütlich fand, stört mich dieses zwanghafte Gebenmüssen und Nichtnehmenkönnen. Das beobachte ich bei vielen Leuten, meistens Frauen. Ach.
Meine Mutter ist auch so eine. Letztes Jahr habe ich ihr, weil sie es sich gewünscht hat – das heißt, sie wollte es wirklich! –, einen Gutschein für Permanent Make-up geschenkt. Das ist, wenn man sich die Augenbrauen und Wimpern dunkel färben lässt, damit man sich nicht mehr jeden Tag schminken muss; also muss man ja eh nicht, aber machen viele Frauen halt, und damit fällt das dann weg. Unterm Baum hat sie sich gefreut. Und was war das Ende vom Weihnachtslied? Sie hat den Gutschein, trotz mehrfacher Erinnerungen meinerseits, bis heute nicht eingelöst, und ich stehe mit dem gleichen Problem vor dem nächsten Jesus-Fest.
Ihm und seiner Christen-Clique verdanken wir dieses ganze Geschenkegedöns ja. Die haben sich auch gute Sachen ausgedacht, Nächstenliebe und so, komplett daneben lagen die Apostel aber mit »Geben ist seliger denn nehmen«. Wo nehmen sie das her? Ah, sie geben es als Zitat von Gott wieder. Lieber Gott, dir ungefragt eine Erklärung darüber zu geben, nehme ich mir jetzt heraus: Es ist umgekehrt!
Natürlich kann Nehmen negativ sein, da nehme ich kein Blatt vor den Mund, zum Beispiel abnehmen (viele quälen sich damit), sich eines Problems annehmen (denn dann hat man ja ein Problem), »Nimm 2« (klebt immer so in den Zähnen), annehmen (das heißt: nicht wissen), sich übernehmen (weil man dann voll Stress hat), Unternehmer (Wieso überhaupt »unter«? Sie sind doch über uns, in der Hierarchie und ihre Büros auch), kein Ende nehmen …
In der Regel aber regen Linke sich über gierige Menschen auf, weil sie angeblich zu viel nehmen. Da wird mit dem Finger auf den »bösen Investor« gezeigt oder der Banker als Krake dargestellt wie damals bei den Occupy-Protesten. Diese personifizierte Kapitalismuskritik ist immer unterkomplex und oft strukturell antisemitisch. Natürlich sind es nicht einzelne Menschen, sondern Systemzwänge, die uns ausnehmen. Dazu gehört die von vielen verinnerlichte Vorstellung, bei der Arbeit alles geben zu müssen. Aber auch Nehmen kann etwas Gutes sein, zum Beispiel vorwegnehmen (für Ungeduldige), Elternzeit nehmen (für Väter), ausnehmen (für Fischliebhaber), unternehmen (für Aktive), sich freinehmen (für alle), nachnehmen (bei leckerem Essen), ernst nehmen (Kritik, Frauen) oder hochnehmen (Männer, Babys, Drogenkartelle).
Umgekehrt kann Geben geradezu giftig sein: übergeben (eklig), das letzte Hemd geben (schlecht für die Gesundheit, vor allem im Winter), Ohrfeige geben (schlecht für die Stimmung), aufgeben (schlecht fürs Gewinnen), Gas geben (schlecht fürs Klima), den Löffel abgeben (schlecht fürs Leben). Kurzum: Wo Menschen sind, die nehmen, sind immer auch Menschen, die das Tischtuch auf der anderen Seite nicht fest genug gehalten haben. Wenn an der Weihnachtstafel euer Onkel also wieder zu viel Raum einnimmt, mit hohlen Phrasen oder blankem Rassismus, seid ihr mit schuld. Denn ihr habt ihm einen Platz am Tisch, zu viel Alkohol oder Redezeit gegeben. Das Problem ist nicht (nur), dass die Lauten, die Männer oder die Reichen sich so große Stücke vom Kuchen nehmen. Das Problem ist, dass der Rest es nicht tut!
Geben fürs Gewissen – Sarah Yolanda Koss über den fehlgeleiteten Spenden-Altruismus
Schon Phoebe, dieser blonde Hippie aus der 90er-Serie »Friends«, hatte sich mit der Frage beschäftigt: Kann Geben wirklich uneigennützig sein? Auf der Suche nach dem ultimativen Altruismus lässt sie sich von einer Biene stechen, damit die »vor ihren Bienenfreunden prahlen kann«, vergisst bei ihren Schmerzen aber: Die Biene ist jetzt tot. Blöd. Die dahingeschiedene Biene ist irgendwie symbolisch für die Unerreichbarkeit uneigennützigen Gebens. Auch wenn die Debatte natürlich weit in die Menschheitsgeschichte zurückgeht; schon klar, Philosophie war vor der Sitcom.
Trotzdem wird es einem zu dieser Jahreszeit überall vorgegaukelt: das uneigennützige Schenken oder gar das Konsumieren für den guten Zweck. Lieber den ökologisch abbaubaren Bio-Bambusbecher erstehen oder den Weihnachts-Marx-Pullover, der auch im familiären Umfeld die politische Position klarstellt? Die man ja auf den letzten Metern des Jahres doch über Bord wirft, wenn man das Sammelwerk zu Anarchismus auf Amazon bestellt. Denn wer hat schon Zeit, einen Laden zu besuchen? Außerdem legt es einem der Algorithmus als »das perfekte Geschenk für Weihnachten« nahe.
Zum Glück gibt es in diesem dysfunktionalen System einen Lichtblick für das altruistische Über-Ich: Jede x-mas-beliebige soziale Organisation ruft zur Spende auf. In Österreich steht exemplarisch dafür die Veranstaltung »Licht ins Dunkel«, wo man von der Crème de la Crème bis zum Otto Normalbürger alle Jahre wieder kräftig Geld für Menschen mit Behinderungen sammelt. Eine Institution. Bis sich das inklusive Medium »andererseits« zu Wort meldete und klarmachte: Wie wäre es, erst einmal die UN-Behindertenrechtskonvention einzuhalten, statt Menschen traditionell einmal pro Jahr von Almosen abhängig zu machen?
Irgendwie gar nicht so »leiwand«, wie die Wienerin sagen würde (ich darf das schreiben, komme selbst von dort). Auch hierzulande betonen es die Sozialorganisationen konstant: Geldspenden vor Weihnachten bringen gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht viel weiter, solange die Armutsquote steigt. Was sie tut. So sind auch die Tafeln, die armutsbetroffene Personen mit Lebensmitteln versorgen, die sonst weggeworfen würden, diesen Dezember völlig überlaufen – obwohl die selbstlosen Spenden und das Ehrenamt um diese Jahreszeit stets zunehmen. Oh du fröhliches Staatsversagen.
Deswegen, zum Kuckuck mit dem Altruismus. Wünschen wir uns doch per se einen neuen Umgang mit schönen Gaben – wie wäre es dieses Jahr zum Beispiel mit einer funktionalen Schenkungssteuer ohne Schlupflöcher? Da wäre es mit der altruistischen Freiwilligkeit bei einigen zwar wohl nicht so weit her, aber zumindest hätten (fast) alle was davon.
Die Kunst der Diplomatie – Sebastian Bähr denkt über die Rolle von DDR-Staatsgeschenken nach
Rituale des »Gebens und Nehmens« finden sich nicht nur im privaten Bereich. Staatsgeschenke bei Besuchen, Jubiläen oder internationalen Treffen sind ein wichtiger Bestandteil der diplomatischen Etikette. Auch gegenseitige Ehrengeschenke zwischen Parteien und Organisationen, die sich auf internationaler Ebene nahestehen, sind nicht unüblich, um dem Gegenüber Respekt zu zollen, ein bestimmtes Selbstverständnis zu pflegen, die eigene Bedeutung zu unterstreichen – oder, wie bei allen Schenkritualen, schlicht Erwartungen zu erfüllen. Interessanterweise war die Praxis der Ehrengeschenke im Realsozialismus und damit auch in der DDR ziemlich exzessiv.
Eine SED-Delegation überreichte etwa dem Generalsekretär der Partido Socialista Unificado de México (PSUM), Pablo Gomez Álvarez, 1983 in Mexiko-Stadt einen üppigen Teppich mit dem eingewebten Porträt von Karl Marx. Eine Delegation der PSUM wiederum schenkte Erich Honecker 1984 in Berlin einen bunten Teller mit aztekischen Motiven. Während die SED eher die gemeinsame ideologische Basis und die traditionsreiche sozialistische Geschichte betonen wollte, war der PSUM der Bezug auf die national-kulturelle Identität wichtiger.
Mehrfach wurden sogar Kriegsrelikte in Geschenke verwandelt. Ein Teil des 1500. über Vietnam abgeschossenen US-Flugzeugs wurde vom vietnamesischen Botschafter an Walter Ulbricht überreicht. 1961 erhielt ein DDR-Botschafter die Uniformjacke eines beim US-gestützten Invasionsversuch in der kubanischen Schweinebucht gefangen genommenen Kämpfers.
Manchmal wiederum ist weniger mehr: 1952 schenkte der tschechoslowakische Staatspräsident Klement Gottwald Wilhelm Pieck eine Figurensammlung mit Motiven böhmischer Glasbläserkunst. Die Arbeiterfiguren kommen ganz ohne Prunk, Heldenstilisierung, Klassenkampfsymbolik und Pathos aus – und sind gerade deshalb schön. Für einige der Geschenke dürften Sammler*innen heute bei Ebay tatsächlich bedeutende Summen hinblättern: 1978 überreichte das Kybernetische Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR einen kleinen Roboter an Erich Honecker.
Was lässt sich daraus lernen? Ob privat oder in der Diplomatie: Man kann sich bei der konkreten Auswahl eigentlich entspannen. Mehr als um das Geschenk selbst geht es beim Schenken um den Willen, positive Beziehungen aufrechtzuerhalten. Außerdem: Sozialist*innen sind durchaus kreative und engagierte Schenker*innen. Aber auch im Realsozialismus ist es wie am Weihnachtsabend: Die besten Geschenke sind die, die nicht aus Gewohnheit, Erwartungsdruck oder vorauseilendem Gehorsam kommen – sondern von Herzen.
Im Bermudadreieck – Wolfgang Hübner sucht das Richtige und findet das Falsche
Sie kennen das sicherlich: Man hat etwas irgendwohin gelegt, vielleicht sogar an den Platz geräumt, an den es gehört – und wenn man es das nächste Mal braucht, ist es weg. Alle infrage kommenden Tatverdächtigen schwören, es nicht angerührt zu haben, aber es ist spurlos verschwunden. Der letzte Fall dieser Art in unserem Haushalt betraf einen Beutel mit Relais, die wir mit Sicherheit noch mal benötigen werden, aber sie sind weg.
Weil so etwas im Laufe der Jahre mehrfach vorgefallen ist, haben wir uns zunächst im Scherz damit getröstet, dass es irgendwo in der Wohnung ein geheimes Lager gibt, eine Art Asyl der verwundenen Dinge, wo sich all das einfindet, was wir vermissen. Es muss ein sehr klandestin eingerichteter Ort sein, denn er blieb bislang unentdeckt. Wir könnten natürlich die Wohnung komplett ausräumen, um der Sache auf den Grund zu gehen, aber ich vermute, dass dieses Bermudadreieck in einer vierten oder fünften Dimension existiert. Womöglich hängt es genau vor unserer Nase, aber wir können es nicht erkennen.
Inzwischen haben wir sogar den Verdacht, dass in unserem privaten Bermudadreieck nützliche Gegenstände in nutzlosen Kram umgewandelt werden. Dass also beispielsweise die seit Wochen unauffindbare Nagelschere in einen blöden Plastikböppel transformiert wird, der plötzlich irgendwo rumliegt. Denn Materie kann nicht verschwinden, sondern nur die Form wechseln. Das Perfide ist, dass man die Dinge, die verschwunden sind, meistens braucht, manchmal sogar dringend, während das Zeug, das wie aus dem Nichts auftaucht, letztlich keinen Zweck erfüllt, außer uns zu verspotten – mit seiner penetranten Anwesenheit sowie der Weigerung, seine sinnvolle Verwendung preiszugeben.
Wir sammeln die wundersamen Fundstücke in der Hoffnung, dass sie irgendwann irgendwo dranpassen. Die letzten beiden waren eine weiße geriffelte Plastekappe und eine schwarze flache Scheibe mit Gewinde dran. Wir glauben fest, schon mal gewusst zu haben, wozu die gehören, aber vielleicht ist das auch Teil einer Gehirnwäsche. Denn je öfter sich diese Mysterien ereignen, desto mehr ist man geneigt zu vermuten, dass irgendetwas dahintersteckt. Bill Gates, die geheime Weltregierung, die Mobilfunkstrahlung – etwas in der Art. Bestimmt weiß Ken Jebsen da mehr. Wir haben sogar eine Liste der verschwundenen Dinge angelegt, damit wir uns erinnern, wonach wir unbedingt noch mal in Ruhe suchen müssen. Aber eines Tages war auch die Liste weg.
Meine These ist mittlerweile: Eine finstere Macht installiert in jeder Wohnung so ein Schwarzes Loch, das nicht nur Sachen schluckt, sondern auch andere wieder ausspuckt. Nur um uns zu tyrannisieren. Es nimmt und gibt, ohne uns zu fragen. Man müsste das dringend recherchieren. Doch Vorsicht: Teile der Antwort – um einen früheren Minister zu zitieren – könnten die Bevölkerung verunsichern.
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