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Die Kunst des Zuhörens
Paul Werner Wagner präsentiert Gespräche zu Kunst und Kulturpolitik in der DDR
Er interviewt seit Jahrzehnten Prominente, seine Gespräche vor Publikum locken Hunderte in Kino- und Kultursäle. Die Personen auf dem Podium haben meist eine sehr bewegte Biografie, die nicht erst 1989/90 einen Bruch erfuhr. Brüche machen das Leben erst interessant. Das Bedürfnis nach Harmonie schließt das nach Konflikten zwingend aus, doch wenn das Leben nur harmonisch dahinflösse, wäre es langweilig und fad.
Also Paul Werner Wagner interviewt Menschen, die keineswegs ein langweiliges Leben hatten. Und er macht das so geschickt, dass sie selbst über die Niederlagen – Konflikte pflegen nicht nur mit Triumphen zu enden – freimütig reden. Denn: Fragen ist eine Kunst, die Wagner meisterlich beherrscht. Zu dieser Kunst gehört auch das Zuhören, die Geduld, dem Gegenüber Raum zu geben. Und die Fähigkeit, sich als Fragender zurückzunehmen. Wagner akzeptiert die Rollenverteilung: Er ist Dienstleister, der andere soll glänzen.
Gerecht ist das nicht: Wagner, Jahrgang 1948, hat selbst eine erstaunliche Vita, die man eigentlich einem Kultur- und Literaturwissenschaftler nicht zutraut. Er kommt aus einer Handwerkerfamilie in Wolfen, das mittelständische Bauunternehmen des Vaters beschäftigte in den 50er Jahren an die 60 Maurer und Zimmerleute. Doch ehe die Familie – das Haus war schon verkauft – in den Westen gehen konnte, wurde die Mauer gebaut. Die Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH), der sich der Vater durch Flucht entziehen wollte, machte ihn nun zu ihrem Vorsitzenden. Sohn Paul wollte nach dem Abitur 1967 über die ungarisch-österreichische Grenze allein nach drüben. Er kam für anderthalb Jahre in den Knast und dann für sieben Jahre zur Bewährung in die Produktion in Wolfen. Anschließend Studium an der Humboldt-Universität …
Weniges davon fließt in seine tiefgründigen Gespräche ein; er kennt seine Aufgabe und fügt sich in diese. Wenn diese mal wechselt, lebt er merklich auf. Als er das Buch, das es hier zu rühmen gilt, zum Jahresende im voll besetzten Betsaal des einstigen Jüdischen Waisenhauses in Berlin-Pankow präsentierte, fragte ihn nämlich Hans-Eckardt Wenzel aus. Der Liedermacherphilosoph kannte alle im Buch versammelten Gespräche »zur Kunst und Kulturpolitik in der DDR« ganz genau und eben auch den Autor: Wenzel hatte schließlich ein substanzielles Vorwort beigesteuert.
In diesem Sammelband gibt es Gespräche mit Hans Bentzien, Benno Besson, Jürgen Böttcher, Wieland Förster, Frank Hörnigk, Gustav Just, Manfred Karte, Wolfgang Leonhard, Peter Ruben, Kurt Sanderling, Kurt Schwaen, Hermann Weber und Gerhard Wolf. Die meisten von ihnen leben nicht mehr. Aber nicht dieser Umstand machen diese zwischen 1999 und 2011 geführten Dialoge zu zeitgeschichtlichen Zeugnissen. Es sind kulturhistorisch bedeutende Dokumente wegen ihrer Perspektive. Wegen der Weltläufigkeit der ausgebreiteten Erfahrungen, die die Befragten im verflossenen Jahrhundert an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen geschichtlichen Phasen machten. Und: Es sind ungewöhnliche Aussagen und souveräne Wertungen über die DDR. »Die Suche nach den Fehlern im politischen Spiel DDR wird dabei nicht wie üblich im propagandistischen Tagesgeschäft vom Ende hergeleitet«, so Wenzel in seinem Vorwort, »sondern von ihrem Anfang, also von ihrem Sinn in der Geschichte, nicht vom absurden Theater ihres Endes.«
Im Frühjahr 2004 interviewte Wagner im Berliner Brecht-Haus den in Dresden geborenen Bildhauer Wieland Förster. Förster war 15-jährig von der Besatzungsmacht 1946 verhaftet und für 40 Monate ins Gefängnis gesteckt worden, weil er wegen angeblichen Waffenbesitzes denunziert worden war. Ärzte gaben dem Lungenkranken nach der Entlassung noch ein Vierteljahr – in wenigen Wochen wird Förster 95.
Später geriet er ins Mahlwerk der DDR-Kulturpolitik und dann in die Akademie der Künste. Die erste Begegnung mit deren Präsidenten Konrad Wolf (»den ich später sehr lieb gewonnen habe«) fand 1973 statt. Man habe sich »fünf wunderbare Stunden« lang in Försters Atelier unterhalten. »Ich habe ihm aus meinem Leben erzählt, und er hat mir aus seinem Leben erzählt; er hat mir gesagt, warum er zu Stalins Tod geweint hat, und ich habe gesagt, weshalb ich nicht geweint hab, und so ging das hin und her.«
Das letzte Gespräch im Buch wurde bereits vor einem Vierteljahrhundert geführt. Im Februar 1999 interviewte Wagner den im Oktober 2024 verstorbenen Philosophen Peter Ruben, den ersten und letzten frei gewählten Direktor des Zentralinstituts für Philosophie unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften der DDR. Wenn damals und heute von »Deutschland« die Rede ist, sei meist nur Westdeutschland gemeint, monierte der. Natürlich sei die DDR ebenfalls deutsche Geschichte gewesen.
Ihre Gründung war nach Rubens Überzeugung ein Reflex auf die Fehler der Vergangenheit und der Versuch, diese zu korrigieren. Auf die Fehler der Gegenwart eingehend, sagte Ruben auf Wagners Nachfrage: »Es gibt heute so etwas wie einen Antikommunismus ohne Kommunisten, ein kurioses Phänomen, ein Phänomen der mentalen Beklopptheit und Verrücktheit. Warum schlägt man etwas, was es gar nicht mehr gibt?« Und er forderte Gespräche über Vergangenheit und Gegenwart ein. Ohne Gespräche keine Erkenntnis. Denn »Erkenntnis setzt eine sachliche Analyse voraus, die es aber nicht gibt«.
Nicht nur das Gespräch mit Peter Ruben gibt Heiner Müller recht: Unsere Zukunft kommt von den Toten. Ihr Wissen leitet uns.
Paul Werner Wagner: Vom Morgenrot zum Abendlicht. Was zu bedenken bleibt – Dreizehn Gespräche zu Kunst und Kulturpolitik in der DDR. Verlag am Park in der Edition Ost, 370 S., br., 20 €.
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