Vage Verabredungen

Ab Sonntag sollen in Gaza die Waffen schweigen, doch die Kriegsbefürworter halten nicht still

Menschen feiern auf einer Straße in Khan Junis im südlichen Gazastreifen die Nachricht von der Einigung über eine Waffenpause.
Menschen feiern auf einer Straße in Khan Junis im südlichen Gazastreifen die Nachricht von der Einigung über eine Waffenpause.

Als Katars Premierminister Mohammad Bin Abdulrahman Al-Thani am Mittwochabend in Doha vor die Kameras trat und die Details des ab Sonntag geltenden Waffenstillstandes verkündete, waren die Menschen in Khan Junis und Gaza-Stadt bereits auf die Straßen geströmt. Da es in den meisten Städten im Gazastreifen keinen Strom mehr gibt, zeigten die Kameras des katarischen Nachrichtensenders Al-Jazeera im Schein von Taschenlampen tanzende Menschen. Sie feierten, die israelischen Luftangriffe der letzten Monate überlebt zu haben und das vermeintliche Ende des Krieges.

Zeitgleich waren in Tel Aviv tausende Menschenrechtsaktivisten und Angehörige der 98 entführten Geiseln zusammengekommen und begrüßten das Abkommen, auch wenn sie noch nicht wussten, was eigentlich vereinbart wurde. In diesem Moment zeigte sich, dass beide Seiten das Abkommen völlig unterschiedlich interpretieren: Während man in Gaza von einem lange erhofften Waffenstillstandsabkommen und Ende des Krieges spricht, sprechen viele Israelis lediglich über das Ende des Geiseldramas.

Trump klopft sich auf eigene Schultern

Gerade die Intensivierung des Bombenhagels in den letzten Tagen mit über 100 Toten interpretierten viele Palästinenser als Bestätigung dafür, dass es diesmal nicht nur bei der Ankündigung bleibt. Schließlich habe die israelische Luftwaffe auch die letzten Momente vor dem Schweigen der Waffen im Libanon dafür genutzt, ihre Gegner zu treffen, hört man in Gaza-Stadt.

Auch in Washington geht man fest davon aus, dass in Gaza ab Sonntagmittag nicht mehr gekämpft wird. Der zukünftige US-Präsident Donald Trump als auch Amtsinhaber Joe Biden beanspruchten bereits am Mittwochabend den diplomatischen Erfolg für sich, Israels Premier Benjamin Netanjahu dankte beiden und ihren Nahost-Unterhändlern.

Netanjahu unter innenpolitischem Druck

Die Hamas-Führung reihte sich bei den Erfolgsmeldungen ein. »Man habe die israelische Armee unter nahezu unmenschlichen Bedingungen zum Abzug gezwungen«, so Izzat Al-Rischeq aus dem Politbüro der Organisation in Doha.

Am Donnerstagvormittag zeigte sich dann, dass die weltweite Freude über das Ende des 15-monatigen Blutbades doch verfrüht sein könnte. Benjamin Netanjahu verschob die angekündigte Zustimmung seines Sicherheits-Kabinetts zu dem Abkommen auf unbestimmte Zeit. Die Hamas wolle mit in letzter Minute neu erhobenen Forderungen eine Einigung torpedieren, so der Premier und forderte die Klarstellung der Vermittler aus den USA, Katar und Ägypten. Netanjahu steht unter dem Druck seiner radikalen Koalitionspartner Itamar Ben Gwir und Bezalel Smotrich. Beide haben als Sicherheits- respektive Finanzminister wichtige Regierungspositionen inne und wollen wie ihre Anhänger die Fortsetzung des Krieges und die Annexion sämtlicher palästinensischen Gebiete.

»Viele Punkte des Abkommens wurden bewusst vage gehalten.«

Katarischer Diplomat in Doha

Ob sich die radikale Szene Israels und in den besetzten Gebieten gegen die Vermittler, Diplomaten und diesmal auch zwei US-Präsidenten durchsetzen kann, scheint zunächst fraglich. Auch in Israel herrscht nach 467 Tagen Kriegsmüdigkeit. Allein letzte Woche waren über 10 Soldaten in dem völlig zerstörten, nur 40 Kilometer langen und bis zu 12 Kilometer breiten Küstenstreifens gestorben. »Ich gehe davon aus, dass Smotrich letztlich zustimmen wird«, glaubt der politische Analyst Ori Goldberg. »Die Siedlerszene versucht noch, Zugeständnisse für ihre Expansionspläne im Westjordanland zu erpressen.«

Sollte das Abkommen tatsächlich in Kraft treten, sollen in den ersten 42 Tagen 33 weibliche, minderjährige und kranke israelische Geiseln im Austausch für 1000 inhaftierte Palästinenser freigelassen werden. Israelische Soldaten würden sich nur noch in einer 1,5 Kilometer breiten »Sicherheitszone« entlang der Grenze zu Israel aufhalten. Netanjahu hatte überraschend auch dem Rückzug aus dem Philadelphi-Korridor an der ägyptischen Grenze zugestimmt. Aus Kreisen der Vermittler in Doha ist zu hören, dass es Netanjahu sei, der dieses Zugeständnis wieder revidieren will.

Versorgung der Bevölkerung ist prioritär

Doch einer der größten Herausforderungen wird die Versorgung der über zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens werden. Täglich über 600 Lastwagenlieferungen mit Lebensmitteln sollen ab Sonntag die Hungersnot beenden, über 25 000 Zelte werden an diejenigen geliefert, die derzeit bei der nächtlichen Kälte im Freien übernachten. Doch in privaten Hintergrundgesprächen warnen Hilfsorganisationen vor dem Mangel an Fahrzeugen und Fahrern. »Und was passiert, wenn die UN-Organisation UNWRA, wie vom israelischen Parlament beschlossen, Ende des Monats die Arbeit einstellen muss?«, fragt Junis Al-Khatib, der Leiter der Hilfsorganisation Roter Halbmond in Gaza.

Erst in zwei Wochen sollen die Modalitäten der zweiten Phase des Abkommens diskutiert werden, in der die übrigen Geiseln freigelassen würden. Die Leichen der verstorbenen Entführten sollen dann in der dritten Phase übergeben werden.

Viele Menschen obdachlos

»Viele Punkte des Abkommens wurden bewusst vage gehalten«, so ein katarischer Diplomat in Doha gegenüber dem »nd«. »Nur so war es für beide Seiten annehmbar.« Er betont jedoch auch, dass sich das Abkommen automatisch verlängere, solange die künftigen Verhandlungen andauern.

»Ich kann kaum glauben, dass wir nun doch in unser Viertel in Dschabalia zurückkehren dürfen«, sagt Bashar Taleb, ein Fotograf aus dem Norden des Gazastreifens. »Aber dort steht buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen. Die Mehrheit aller Menschen hier ist obdachlos.«

Wer überwacht die Umsetzung der Waffenruhe?

Vor allem palästinensischen Medien wird in der komplizierten Umsetzungsphase des Abkommens eine besondere Rolle zukommen. Da internationale Berichterstatter und Diplomaten weiterhin nicht in den Gazastreifen einreisen dürfen, werden die Reporter der lokalen Medien die einzigen sein, die der Außenwelt über die tatsächliche Umsetzung berichten können. In den letzten Monaten waren Medienvertreter immer wieder von bewaffneten Drohnen der israelischen Armee gezielt beschossen worden, über 130 Journalisten starben in Gaza seit dem 7. Oktober 2023.

Während die Welt auf die Sitzung von Netanjahus Sicherheitskabinett wartet, gingen die Bombardierungen auch am Donnerstagnachmittag weiter. 71 Tote zählte das Gesundheitsministerium seit dem Morgen. »Ich bekomme langsam Zweifel«, sagt die Studentin Laila Al-Haddad aus Gaza-Stadt dem »nd« am Telefon. »Vielleicht setzen sich die Radikalen ein weiteres Mal durch.«

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