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Beatles-Doku: Picklige Teenager im Sündenpfuhl

In der Doku »Die Beatles in Hamburg« zeigt Arte, wie die Fab Four auf der Reeperbahn zwar noch keine Weltstars, aber erwachsen wurden

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Der legendäre »Star-Club« auf der Großen Freiheit.
Der legendäre »Star-Club« auf der Großen Freiheit.

Die Annalen jeder Großstadt mit popkulturellem Anspruch enthalten ein, zwei Musikclubs, in denen Blut, Schweiß und Drogen so dick von der Decke tropfen, dass es überregional danach riecht. Düsseldorf hat den Punkschuppen Ratinger Hof, München die Edeldisco P1, Frankfurt das Techno-Mekka Dorian Grey, Berlin mit KitKat, Tresor, Berghain Dutzende Partytempel. Aber das alles ist nichts gegen Hamburg. Einem seiner Viertel fehlt schließlich nur die Überdachung, um im Ganzen als Musikclub durchzugehen: St. Pauli.

Heute enthält das gentrifizierte Arbeiterviertel mit angeschlossener Amüsiermeile zwar deutlich mehr Touri-Kneipen als Tanzflächen. Kaiserkeller, Star Club, Indra haben aber schon deshalb unverändert kosmopolitischen Klang, weil sie etwas Unvergleichliches eint: auf jeder Bühne standen die Beatles bereits zu einer Zeit, als außerhalb Liverpools praktisch noch niemand von ihnen gehört hatte. Lange her, gewiss. Fast 65 Jahre, um genau zu sein.

Dennoch waren die deutschen Flegeljahre der englischen Band so prägend, dass ihnen Roger Appleton eine Dokumentation widmet. Intensive 52 Minuten blickt der britische Regisseur zurück in die Roaring Sixties, als Hamburg auch deshalb ein globaler Popkulturnabel ist, weil der lokale Konzertveranstalter Bruno Koschmider den Liverpooler Kollegen Allan Williams um Bands seiner Heimatstadt bittet. Zunächst kriegt er jedoch bloß fünf picklige Teenager, die buchstäblich fehl am Platze sind.

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Bis dahin nämlich, sagt Paul McCartneys spätere Freundin Rosi im Interview, war St. Pauli zwar das weltgrößte Rotlichtviertel, »aber was für ältere Leute«. Erst als 1959 der Kaiserkeller öffnet, blüht im Kiez die Jugendkultur – obwohl Koschmieder die Fab Four, seinerzeit noch mit Pete Best statt Ringo Starr und fünf statt vier Mitgliedern, nach ihrer Ankunft erst mal zwei Eingänge weiter ins kleinere Indra schickt. Dort wechselt sich die Coverband Abend für Abend alle 30 Minuten mit einer Stripshow ab. Klingt wenig karrierefördernd.

Doch weil ihr räudiger Gossensound mit jedem Auftritt mehr Gäste anlockt, ziehen die Beatles sechs Wochen später in den Kaiserkeller, wo sie den Kiez, vor allem aber sich selbst für immer verändern. »Wir sind in Liverpool geboren, aber in Hamburg groß geworden«, sagt John Lennon aus dem Off, und beschreibt damit ziemlich genau die Bedeutung ihrer Jugendherberge mit Elbblick. Denn musikalisch mögen sie erst andernorts ausgereift sein, habituell taten sie es im Takt von Sex’n’Drugs’n’Gangkriminalität der Hafenstadt.

Als sie lediglich elf Tage vor ihrem ersten Tophit »Please Please Me« Anfang 1963 den letzten ihrer drei Hamburger Langzeitaufenthalte mit einem Silvesterkonzert im Star Club beendet hatten, »waren die Beatles zwar die Beatles«, gab Lennon mal zu Protokoll. »Aber unsere Kanten waren abgeschliffen.« Verglichen mit ihrer Heimatstadt war das ausländische Exil schließlich ein Sündenpfuhl, dessen exzessives Nachtleben für Unerfahrene nur mithilfe einer Mischung aus Alkohol und Aufputschmitteln erträglich war – aber eben auch höllischen Spaß machte.

Doch weil ihr räudiger Gossensound mit jedem Auftritt mehr Gäste anlockt, ziehen die Beatles sechs Wochen später in den Kaiserkeller.

»Wir waren wie Kinder, die von der Leine gelassen wurden«, erzählt Paul McCartney vom Ausnahmezustand Reeperbahn. »In Liverpool kannten wir nur nette Mädchen«, fügt er noch fröhlich hinzu. »Aber wenn du in Hamburg eine Freundin hattest, war sie wahrscheinlich Stripperin.« Diesen Sprung ins heiße Wasser stellt Appleton im bildgewaltigen Mix aus Familienalbum und Found Footage, Alten Krimis und Anime, Reenactment und einer beachtlichen Auswahl Zeitzeugen nach. Mitmusiker wie Pete Best oder Chas Newby zum Beispiel oder ein halbes Dutzend ortsansässiger Wegbereiter um Jürgen Vollmer und Klaus Voormann.

Mit ihrer Hilfe wird die Doku zur Milieustudie einer unwiederbringlichen Epoche, wie sie auch Ostberlin nach dem Mauerfall erleben durfte. Das macht ihn nebenbei zum Appell an Stadtplaner von heute, Subkultur nicht nur ökonomisch durchzukalkulieren, wie es selbst der rot-grüne Senat tut. Im Gegensatz zum Juni 1961, als die aufstrebende Band den fünften Beatle Stuart Sutcliffe an die progressive Hamburger Kunstszene verloren hat, ist die Hansestadt im Januar 2024 bei aller Restkreativität klinisch tot.

Umso intensiver fängt Appleton das Lebensgefühl der zweitgrößten Städte zweier Nationen ein, die kurz zuvor noch Todfeinde waren und sich dennoch über alle Grenzen hinweg befruchtet haben wie selten in der Musikgeschichte. »Es war ein guter, sauberer Spaß«, meint Paul McCartney zu Beginn bei Arte und korrigiert: »Ein guter dreckiger Spaß«. Wie diese Dokumentation.

Verfügbar auf Arte

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