Frank Littek: Auf den Spuren deutscher Judenretter

Die Mehrheit der Deutschen hat weggeschaut oder gar mitgetan am Holocaust. Aber es gab auch die anderen

Millionen Ermordete. Und wie viele Gerechte?
Millionen Ermordete. Und wie viele Gerechte?

Er könne nicht mit Gewissheit sagen, ob er den Mut zum Widerstand in dieser finsteren Zeit aufgebracht hätte, gesteht Frank Littek. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler hat sich auf die Spur »stiller Helfer« begeben, wollte wissen, wer die Menschen waren, die ungeachtet der Gefahr fürs eigene Leben in Nazideutschland verfolgte Juden retteten, ihnen Unterschlupf gewährten, sie versteckten, mit Lebensmitteln oder gefälschten Papieren versorgten, ihnen zur Flucht ins Ausland verhalfen.

Littek ist buchstäblich über seinen Forschungsgegenstand gestolpert. Während er als Redakteur in Hamburg arbeitete, begegneten ihm vor allem in Eppendorf, dem wohl ältesten Viertel der Hansestadt, fast auf jeden Schritt und Tritt Stolpersteine. Er las nicht nur die darauf eingravierten Namen, sondern wollte Näheres über die auf den Messingtäfelchen verewigten Menschen erfahren. Wer waren sie? Was ist mit ihnen geschehen? »Das war spannend und ergreifend, gleichzeitig so traurig und erschütternd«, erinnert er sich im Gespräch mit »nd«.

Littek fragte sich, wie es geschehen konnte, warum die Mehrheit der Deutschen wegschaute, schwieg oder gar mittat am millionenfachen Mord an den Juden. Er stieß dabei auf Deutsche, die nicht schwiegen, nicht wegschauten, nicht am mörderischen Werk mittaten. Schon zweimal weilte er in Yad Vashem, der zentralen Holocaust-Gedenkstätte in Israel, 1953 gegründet. Sie ist vornehmlich den Opfern gewidmet. Dort gibt es aber auch einen »Garten der Gerechten unter den Völkern«, in dem nichtjüdische Menschen geehrt werden. Unter den fast 30 000 gewürdigten Judenrettern finden sich die Namen von 651 Deutschen. Littek wollte wissen, was deren Motivation war, woher sie kamen, was aus ihnen wurde.

»Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale Demokraten, Christen, aber auch Unpolitische.«

Frank Littek

»Yad Vashem verfügt über eine beeindruckende Datensammlung«, berichtet der Journalist und Publizist, der bereits 40 Bücher verfasst hat, vor allem zur Technikgeschichte, aber auch zu historischen Themen und jetzt neben einem Roman über das Kriegsende in Deutschland ein Buch über »Retter in dunkler Zeit«. Darin sind alle 651 deutschen »Gerechten unter den Völkern« in Kurzbiografien enthalten, an die 100 stellt Littek in ausführlicheren Porträts vor. Die Recherchen – eine Kärrnerarbeit. Viele Unterlagen sind vernichtet.

Auf die Frage, aus welchen sozialen Schichten die »stillen Helfer« stammten, wie Judenretter gemeinhin in Forschung und Literatur genannt werden, welche politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen sie vertraten, antwortet der Hobbyhistoriker: »Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale Demokraten, Christen, aber auch Unpolitische.« Viele Retter handelten allein, auf sich gestellt, andere hatten Freunde, die gleich ihnen empört waren über die Verfolgung der jüdischen Mitbürger. Wiederum andere waren in widerständige Netzwerke eingebunden und standen schon früh in Opposition zu den Nazis. Beispielsweise die deutschlandweit größte Widerstandsorganisation um die Kommunisten Anton Saefkow, Bernhard Bästlein und Franz Jacob oder die über deutsche Grenzen hinaus, auch in Westeuropa agierende »Rote Kapelle«.

Die Hausfrau

Besonders berührt hat Littek eine einfache Frau aus Bremen, seiner Geburtsstadt: Henny Brunken, deren Mann zur Marine eingezogen war. Trotz täglicher Sorge um den Gatten, dessen U-Boot ihm jederzeit ein eisernes Grab in den Untiefen des Meeres werden konnte, war sie nicht blind für Leid und Elend um sie herum. Henny barmten die ausgemergelten Zwangsarbeiter, die nach alliierten Bombenangriffen die Trümmer forträumen mussten, darunter zwei Mädchen, Eva und Ella Kozlowski. Die Mutter eines sechs Monate alten Sohnes und einer kleinen Tochter entschloss sich, ihnen etwas zur Stärkung zuzustecken. »Sie füllte Milch und Haferflocken in eine Flasche, steckte diese in eine Wollsocke, hängte sie an den Tretroller ihrer Tochter Erika und schickte sie auf den Weg zu den beiden Schwestern. Die Übergabe gelang.«

Auf diese Weise versorgte Henny fortan Eva und Ella regelmäßig. Und zu ihrem 18. Geburtstag im Februar 1945 bekam Eva von der Bremer Hausfrau ein besonderes Geschenk, ein selbst gesticktes Taschentuch mit deren Initialen. »Auch diese kleinen Gesten gaben Kraft, stärkten den Überlebenswillen«, betont Littek. Eva und Ella überlebten und wanderten nach der Befreiung nach Israel aus. Über zwei Jahrzehnte später begegnet Henny ihren Schützlingen wieder. Die Schwestern hatten eine Suchanzeige gestartet und ihre Retterin nach Israel eingeladen. Und 1968 wurde diese als »Gerechte« anerkannt, noch zu ihren Lebzeiten, ein Glück, das den wenigsten Rettern zuteilwurde.

Der Verlobte

Beispielsweise Heinrich Heinen. Der junge kaufmännische Angestellte aus einer katholischen Kölner Familie fuhr auf eigene Faust nach Riga, um seine jüdische Verlobte, Edith Meyer, aus dem Ghetto zu befreien. Zusammen mit 1000 anderen Juden und Jüdinnen war sie im Dezember 1941 aus Düsseldorf gen Osten deportiert worden. 1938 hatten sich Heinrich und Edith kennen- und lieben gelernt. »Die drei Jahre zuvor erlassenen Nürnberger Rassegesetze verboten jegliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Die Verliebten setzten sich darüber hinweg.

Heinrich konnte Edith nicht vergessen«, erklärt Littek. Und tatsächlich gelang es ihm, sich ins Ghetto zu schmuggeln. »Dort suchte und fand er Edith.« Den beiden gelang es, das Ghetto unbemerkt zu verlassen. Für ein paar Tage kamen sie bei einer lettischen Bäuerin unter, schlugen sich dann nach Deutschland durch, bis an die Schweizer Grenze. Dort wurden sie von Zollbeamten gefasst. Heinrich gelang auch die Flucht aus dem Gefängnis, allerdings ohne seine Edith. Und letztlich geriet er doch noch in die Fänge der Fahnder und wurde erschossen.

Und Edith? »Die Karteikarte bei der Gestapo Innsbruck vermerkt für diesen Tag um 7.30 Uhr als ›Endverfügung‹: Transport Auschwitz. Weitere Details lassen sich nicht mehr rekonstruieren«, so Littek, der den Weg von Heinen nachverfolgte, nach Riga fuhr und das Viertel aufsuchte, wo sich einst das Ghetto befand. Auch die Odyssee der beiden quer durch Deutschland rekonstruierte er und kroch über die deutsch-schweizerische Grenze bei Feldkirch, über Wiesen und durch Gestrüpp. Um nachzuerleben, was »seine« beiden Helden durchgemacht haben.

Die Sexarbeiterin

Es sind so viele berührende Geschichten, die Littek gesammelt hat. Sie zeugen von Anstand, Menschlichkeit und Zivilcourage. Es bedurfte keiner akademischen Bildung, um Sittlichkeit zu beweisen. Da ist die Prostituierte Charlotte Erxleben. Sie versteckte einen aus dem Vernichtungslager Majdanek geflohenen Juden in ihrer Wohnung. »Besonders brisant war, dass sie in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes wohnte, gegenüber der Gestapo-Zentrale.«

Doch nicht nur jenem ihr unbekannten Mann namens Fritz Walter half sie. Auch einer jüdischen Schauspielerin, die Walter kannte: Steffi Ronau, deren Mutter und Schwester bereits deportiert waren und der gleiches Los drohte. »Charlotte vermittelte sie und ihr Baby an eine Kollegin«, berichtet Littek. Ende 1943 witterte die Gestapo Verdacht, stürmte die Wohnung der Erxleben. »Walter entkam über die Hintertreppe, Charlotte wurde verhaftet, konnte aber beim Verhör glaubhaft machen, dass die in ihrer Wohnung vorgefundene Männerkleidung ihrem Verlobten gehöre. «Nach dem Krieg heirateten Steffi Ronau und Fritz Walter und unterstützten nun ihrerseits Charlotte Erxleben», die posthum 2014 von Yad Vashem zu einer «Gerechten» ernannt wurde.

Littek hat der israelischen Gedenkstätte in seinem Buch, das mit einem historischen Exkurs über die sukzessive Entrechtung der Juden in Nazideutschland beginnt, über Ausgrenzung, «Arisierung» und Ermordung informiert, ein eigenes Kapitel eingeräumt. Darin skizziert er die Auswahlkriterien für die Anerkennung als «Gerechte». Die Rettungstat muss belegt oder bezeugt sein, und der Retter oder die Retterin darf sich nicht Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Zumeist wurden die «stillen Helfer» von Shoah-Überlebenden gemeldet, aber auch von Historikern oder sich der Erinnerung und dem Gedenken widmenden Menschen.

Der Anteil der deutschen Judenretter nimmt sich im Vergleich zu jenen anderer Nationen leider gering aus. Sie dürfte aber größer sein als bislang bekannt, mutmaßt Littek und verweist auf den Holocaust-Forscher und Shoah-Überlebenden Arno Lustiger, der die Zahl von 7000 genannt hat.

Der Kommunist

Zu den Rettern gehörte auch Willi Bleicher, Gewerkschaftsfunktionär und Kommunist, zunächst in der KPD, dann in der KPD-Opposition. Nach Hitlers Machtantritt baute er in Stuttgart bei Daimler eine Widerstandsgruppe auf, wurde denunziert und 1938 ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er der illegalen Lagerleitung angehörte und an der Rettung eines dreijährigen polnisch-jüdischen Kindes beteiligt war. Dieser Rettungstat unter den Augen der SS hat Bruno Apitz in seinem 1958 in der DDR veröffentlichten Roman «Nackt unter Wölfen» ein literarisches Denkmal gesetzt.

Durch dessen Verfilmung 1963 unter der Regie von Frank Beyer erfuhr Stefan Jerzy Zweig, ebenjenes 1941 in Krakow als Sohn eines Rechtsanwaltes geborene Kind, wer seine Retter waren. Er lebte inzwischen mit seinem Vater Zacharias in Israel. Der 22-Jährige traf sich mit dem Romanautor in der DDR und mit seinem damaligen Retter in der Bundesrepublik. Jerzy Zweig litt unter dem Anfang der 2000er Jahre von einem Publizisten erhobenen Vorwurf, er habe nur überlebt, weil ihn die «roten Kapos» in Buchenwald gegen einen «Zigeunerjungen» auf der von der SS geforderten Todesliste ausgetauscht hätten. Wie grausam können ignorante, besserwisserische Nachgeborene sein! Stefan Jerzy Zweig prozessierte über Jahre, schließlich erfolgreich. Indes raubte es ihm die Lebenskraft, er starb im Februar vergangenen Jahres.

Der Pianist

Die Autorin dieses Beitrags freut sich, auch einen umfangreicheren Eintrag zu Eberhard Rebling in Litteks Buch zu finden. Der Pianist, Absolvent der Musikwissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (seit 1946 Humboldt-Universität) und konsequenter Nazi-Gegner floh 1936 in die Niederlande, gründete dort mit der jüdischen Tänzerin und Sängerin Lien Brilleslijpe, später bekannt als Lin Jaldati, eine Familie. Als im von den Nazis 1940 okkupierten Nachbarland ebenfalls die Deportationen der Juden in die Vernichtungslager begannen, mietete Eberhard unter falschem Namen ein Haus, in dem Lins Familie und weitere bedrohte Juden Zuflucht fanden. Das Versteck wurde 1944 verraten, alle im Haus befindlichen Menschen wurden verhaftet. Eberhard konnte während der Fahrt zum Verhör fliehen und tauchte unter. Lin wurde über das Sammellager Westerbork ins KZ Bergen-Belsen deportiert, wo sie noch Anne und Margot Frank begegnete, bevor beide an Typhus verstarben.

Lin Jaldati und Eberhard Rebling fanden in der DDR ihre Heimat und tourten mit jiddischen Liedern rund um die Welt. Die Töchter Jalda und Kathinka sind in die Fußstapfen der Eltern getreten, halten deren musikalisches Erbe und Vermächtnis aufrecht. «Interessant» findet Littek, dass Eberhard Rebling zunächst die Ehrung als «Gerechter» abgelehnt habe, «mit der Begründung, dass eine solche Handlung, Menschen in Not zu helfen, keine besondere Auszeichnung verdiene. Außerdem sei er nicht der Einzige gewesen.» 2007, inzwischen 96 Jahre alt, nahm Eberhard Rebling die verdiente Auszeichnung dann doch an.

Nicht wenige «stille Helfer» haben kein Aufsehen um ihre mutige Tat gemacht. Aus Bescheidenheit. Und weil sie ihnen selbstverständlich erschien. Aber auch, weil im Nachkriegswestdeutschland, als alte Nazis wieder hohe Ämter in Adenauers Staatsapparat, in Justiz, Polizei, Militär und Hochschulwesen besetzten und Wehrmachtsgeneräle ihre verklärenden Memoiren veröffentlichten, es ihnen wohl nicht opportun erschien, sie mit Unverständnis oder gar Anfeindung konfrontiert worden wären.

Der Manager

Aber warum hat zum Beispiel Berthold Beitz dieses Schweigen nicht durchbrochen? Ein mächtiger, einflussreicher Manager? Generaldirektor beim Krupp-Konzern, einem der schlimmsten Kriegsverbrecherkonzerne. Mehrfach soll der junge Beitz als Vertreter einer deutschen Ölfirma in den besetzten Gebieten der Sowjetunion Juden gerettet haben. Im August 1942 holte er beispielsweise an die 250 Männer und Frauen aus einem Transport ins Vernichtungslager Belzec heraus. «Er deklarierte sie als Facharbeiter. Zahlreiche Augenzeugenberichte haben bestätigt, dass es sich bei vielen jedoch um unqualifizierte Arbeitskräfte handelte, die zudem in körperlich schlechter Verfassung waren», merkt Littek an. Zudem informierte Beitz jüdische Bekannte über bevorstehende «Aktionen» und versteckte einige mit seiner Frau in ihrem Haus. Er wurde 1973 von Yad Vashem als «Gerechter» anerkannt, seine Frau Else 2006.

Zu den Mitarbeiterinnen von Beitz damals gehörte Hilde Berger, später Sekretärin von Oskar Schindler, dem in Litteks Buch ebenso ein größerer Eintrag gilt. Dessen Geschichte ist bekannt, seit Steven Spielbergs Film «Schindlers Liste» von 1993. Danach begann man dann auch in der Bundesrepublik endlich, sich der «stillen Helden» anzunehmen, ihr Leben zu erforschen, mit Ausstellungen, Büchern und Filmen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Eines der frühen Beispiele ist Otto Weidt, der in seiner Blindenwerkstatt, als «wehrwichtiger Betrieb» eingestuft, viele Juden und Jüdinnen untergebracht und auch Lebensmittelpakete nach Theresienstadt geschickt hatte. 1971, über zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, wurde er als «Gerechter» geehrt. Zu jenen, die ihm das Überleben verdanken, gehört die deutsch-israelische Publizistin Inge Deutschkron.

«Schindlers Liste» wurde seinerzeit von den Deutschen begeistert aufgenommen. Weil der Film sie entlastete? Seht her, wir waren doch nicht alle schlecht und böse? «Das mag sein, dass manche Deutsche dies gern so aufgriffen», antwortet Littek. Aber als Alibi oder Entschuldung will er den Film nicht werten. Denn er verlieh der Beschäftigung mit düsterer Zeit einen neuen Impuls, beförderte die weitere Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit – die freilich nicht beendet ist. Nicht enden kann und nicht enden darf.

Frank Littek: Retter in dunkler Zeit. Die umfassende Übersicht über deutsche Gerechte unter den Völkern. Solibro, 288 S., geb., 24 €.

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