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Diese Geigen sagen: Wir sind hier
Ein Konzert zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in der Berliner Philharmonie
Im Juli 1942 wurden Tausende von Juden in Paris verhaftet und in Viehwaggons in Konzentrationslager im Osten gebracht, die meisten von ihnen nach Auschwitz. In einem der überfüllten Züge befand sich ein Mann, der eine Geige in der Hand hielt. Als der Zug irgendwo in Frankreich anhielt, hörte der Mann Stimmen: ein paar Männer, die an den Schienen arbeiteten, sie reparierten. Der Mann im Zug rief: »Dort, wo ich jetzt hingehe, brauche ich keine Geige. Hier, nimm meine Geige, damit sie leben kann!«
Der Mann warf seine Geige aus dem schmalen Fenster. Sie landete neben den Schienen und wurde von einem der französischen Arbeiter aufgehoben. Viele Jahre lang hatte die Geige kein Leben. Niemand spielte auf ihr, niemand hatte eine Verwendung für sie. Jahre später verstarb der Arbeiter und seine Kinder fanden die verlassene Geige auf dem Dachboden. Sie erzählten einem südfranzösischen Geigenbauer die Geschichte, die sie von ihrem Vater gehört hatten. Der Geigenbauer wusste von den »Violins of Hope« und gab die Geige an diese Institution weiter, wo sie wieder gespielt werden kann.
Solche Geschichten lassen sich über fast alle der mittlerweile über 70 Instrumente der Sammlung »Geigen der Hoffnung« erzählen, die der Geigenbauer Moshe Weinstein anlegte. Weinstein gelang 1938 die Flucht aus Warschau nach Tel Aviv, wo er einer der führenden Geigenbauer Israels wurde. Nach der Shoa wurden viele Instrumente bei ihm abgegeben, die einst jüdischen Musiker*innen, aber auch Roma-Musikern oder von den Nazis verfolgten Intellektuellen aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich oder Italien gehört hatten. Erst Weinsteins Sohn Amnon (1939–2024), auch er Geigenbauer, begann damit, diese Instrumente zu restaurieren. 53 Geigen, eine Bratsche und ein Violoncello aus dieser Sammlung erklangen am vergangenen Montag zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in einem Gedenkkonzert in der Berliner Philharmonie. Vladimir Jurowski, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) und der Rias Kammerchor gestalteten dieses Konzert.
Die aus der Shoa geretteten Streichinstrumente wurden von Musiker*innen des RSB zum Klingen gebracht in der Uraufführung von Berthold Tuerckes »Aus Geigen Stimmen«. Immer wieder erklangen solistische Elegien auf Instrumenten wie der »Hecht-Violine«, die die aus Bielefeld stammende und nach Holland ausgereiste Geigerin Fanny Hecht ihrer Nachbarin übergab, als sie 1943 nach Westerbrok und später nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie am 17. September 1943 ermordet wurde. Auf der Innenseite der Violine steht: »Antonius Stradivarius Cremona, Faciebat anno 1743«. Über all diese Instrumente lassen sich individuelle Geschichten erzählen – und dass sie in Berlin zum Klingen gebracht wurden, ist vor allem auch ein »Zeichen gegen das Vergessen«, wie Amnon Weinstein einmal das Anliegen seiner Instrumentensammlung beschrieb.
So spielen manche Musiker*innen auf Geigen mit kunstvoll in den Korpus eingebauten Davidsternen, die für Klezmervirtuosen gebaut wurden; einige davon wurden bei Massenerschießungen im Wald von Ponar ermordet, wo deutsche SS-Angehörige und litauische Kollaborateure zwischen 1941 und 1944 fast 100 000 Menschen umgebracht haben. Eine französische Geige gehörte Zvi Haftel, der Mitglied im 1936 gegründeten Palestine Philharmonic Orchestra war; eine andere trägt die Inschrift »Gewidmet den Opfern von Babyn Jar, September 1941«. Auch der Urgroßvater von RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski liegt in der Schlucht von Babyn Jar, er wurde dort am 30. September 1941 zusammen mit Zehntausenden anderen jüdischen Einwohnern Kiews von den Nazis ermordet.
Alle 55 Streichinstrumente der Weinstein-Sammlung bekommen innerhalb der Komposition ein Solo. Es sind ergreifende Miniaturen zu hören, meistens mit einer motivischen Zeile aus dem traditionellen Kol Nidre, dem Abendgebet an Jom Kippur: »eine kleine Sekunde und Terz, oft abwärtsgerichtet, mit der großen Terz«, so der Komponist. Im Wechsel erklingen jiddische Gedichte von Abraham Sutzkever (dessen am 14. Februar 1943 im Vilnaer Ghetto geschriebenes »Vi Azoy?« Daniel Kahn & The Painted Bird auf ihrem Album »Lost Causes« eingespielt haben), der Psalm 137 und Texte aus Weinsteins Dokumentation über das Schicksal der Instrumente (es wäre sicher eine gute Idee gewesen, die Texte in den Saal zu projizieren).
So entsteht ein kleines Oratorium, das musikalisch allerdings insgesamt nicht so recht zu überzeugen vermag – was aber angesichts der Geschichte der Instrumente und dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus vernachlässigt werden kann. »Diese Geigen sagen: Wir sind hier. Für immer!« Das war die wichtige Message dieses Konzerts, dessen zweiter Teil fantastisch war: Das RSB spielte Werke von Gideon Klein und von Mieczyslaw Weinberg, jeweils Bearbeitungen für Streichorchester: Von Klein ein Trio, von Weinberg das von Jurowski und Steffen Georgi für Streichorchester eingerichtete Streichquartett Nr. 5 B-Dur op. 27, eine Erstaufführung.
Gideon Klein wurde zwei Tage vor seinem 22. Geburtstag in das KZ Theresienstadt eingeliefert. Dort organisierte er Musikveranstaltungen, betreute Waisenkinder, gab Musikunterricht, bevor er im Herbst 1944 ins Außenlager Fürstengrube verbracht wurde, wo er Zwangsarbeit in den Kohlegruben leisten musste. Unmittelbar vor der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde Gideon Klein von der SS erschossen. Er wurde 25 Jahre alt. Klein hatte seine Theresienstadt-Kompositionen einer Freundin und Mitinhaftierten gegeben, die das Lager überlebte. Das Manuskript des Streichtrios wird heute in der Gedenkstätte Terezín aufbewahrt.
»Alle drei Sätze des Trios von Gideon Klein verwenden mährische Volksmelodien. Heimatfreude will gleichwohl nicht aufkommen. Bitonal verzerrt und rhythmisch zerborsten, atmen die Volksmelodien in den Ecksätzen illusionslose Trauer, aber auch Charakterfestigkeit, Härte und Stolz«, schreibt Steffen Georgi im wie immer hervorragenden (und kostenlos verteilten, hallo Berliner Philharmoniker!) Programmheft. Ein beklemmendes Werk.
Das gilt nicht minder für Weinbergs Komposition. 1919 in Warschau geboren, flüchtete der junge Klaviervirtuose im September 1939 vor der deutschen Wehrmacht, die Polen überfallen hatte, in die Sowjetunion. Seine Eltern und seine kleine Schwester wurden von den Faschisten im Lager Trawniki ermordet.
Sein Streichquartett Nr. 5 komponierte Mieczyslaw Weinberg im Jahr 1945, es ist ein Werk unbedingter Zeitgenossenschaft: Voller Trauer, Angst und Verzweiflung, wie etwa in der großen Elegie des ersten Satzes zu hören ist. Dann eine wunderlich schlendernde, fast ironische Humoreske mit vielen jüdischen Melodien, abrupt unterbrochen von einem an seinen Mentor Schostakowitsch erinnernden, grimmigen Scherzo, das mit brutaler Wucht in den Saal fährt. In einer »Improvisation« und einer »Serenade« fanden Jurowski und die Streicher des RSB zu unsagbarer Wehmut zurück, zur Trauer um die ermordeten Familienangehörigen und zur Angst vorm Vergessenwerden.
Ein großer Abend, ein tief empfundenes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. »Nie wieder!«, das ist in diesem Konzert keine Floskel, sondern ein eindringlicher Auftrag. Und gerne würde man Werke von Mieczyslaw Weinberg öfter in Berliner Konzerten hören.
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