Klimaschutz mit »sozialen Ungleichgewichten«

Gutachten erklärt, woran es in Deutschland hapert und was die nächste Bundesregierung tun muss

Bei der Vorstellung des Sondergutachtens
Bei der Vorstellung des Sondergutachtens

2023 lag die deutsche CO2-Bilanz um 76 Millionen Tonnen und 2024 um 36 Millionen Tonnen unter der gesetzlichen Vorgabe. Die Gründe sind bekannt: Die Energiewirtschaft steigt schneller aus der Kohle aus, und die Industriezweige, die viel Energie verbrauchen, schwächeln wegen der schlechten Konjunktur und hoher Energiepreise. Die entscheidende Frage aber ist: Wird Deutschland 2030 das 65-Prozent-Minderungsziel erreichen?

Diese Hoffnung hat der Expertenrat für Klimafragen am Mittwoch zunichtegemacht. Zwar lobt das 300-seitige Gutachten des unabhängigen Gremiums, dass die CO2-Emissionen in den letzten zehn Jahren deutlicher abnahmen als zuvor, im Schnitt um 26 Millionen Tonnen. Trotzdem reicht diese Rate nach den Angaben nicht aus, um 2030 das 65-Prozent-Ziel zu schaffen. Dazu müssten die Emissionen jedes Jahr um rund 39 Millionen Tonnen sinken, rechnet der Expertenrat vor. Damit ist zum zweiten Mal gutachterlich festgestellt, dass Deutschland sein Klimaziel 2030 verfehlen wird. Das hat laut Gesetz zur Folge: Die neue Bundesregierung muss ein neues Klimaschutzprogramm vorlegen, voraussichtlich bis Ende 2025.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Ursachen sieht der Expertenrat vor allem in der zu geringen Emissionsminderung in Gebäuden und Verkehr. So seien die Austauschquoten bei Gas- und Ölheizungen zu niedrig, heißt es im Gutachten, und der Absatz neuer fossiler Heizungen weiter hoch. Zudem werde nach wie vor eine hohe Anzahl fossiler Pkw neu zugelassen.

Zu diesen beiden »alten« Problembereichen kommt nun ein dritter hinzu: stark steigende Emissionen aus Wäldern, Mooren, Äckern und Grünland. Die im vergangenen Oktober veröffentlichte Bundeswaldinventur habe die Landnutzungs-Bilanz »drastisch geändert«, stellt der Expertenrat dazu fest. Zuvor sei angenommen worden, dass von 2018 bis 2022 durch die Landnutzung insgesamt 11 Millionen Tonnen CO2 emittiert wurden – im Ergebnis der Inventur betrage diese Menge aber 370 Millionen Tonnen.

Der Expertenrat plädiert daher für ein neues Herangehen an Klimapolitik. Diese müsse stärker in andere Politikfelder »eingebettet« sein. »Klimapolitik kann nicht mehr isoliert, sondern muss breiter gedacht werden«, erklärte die Vizechefin des Gremiums, die Physikerin Brigitte Knopf. Sie moniert auch ein »soziales Ungleichgewicht« bei den Maßnahmen. Bisher seien in einigen Bereichen vor allem einkommensstarke Haushalte gefördert worden. Als Beispiele nannte Knopf die Gebäudeförderung oder den Umweltbonus für E-Autos. Ein Gegenmodell sei hier das »Social Leasing« von E-Autos, wie es in Frankreich praktiziert wird.

Die Klimaexpertin wies auch darauf hin, dass untere und mittlere Einkommen stärker von steigenden CO2-Preisen betroffen sind. Das werde sich ab 2027 mit Einführung des Emissionshandels für Gebäude und Verkehr verstärken. Der Expertenrat hält hier ausgebaute Unterstützungen und Kompensationen für erforderlich. Dazu zählt er nicht nur ein Klimageld, sondern auch den Ausbau einer klimafreundlichen Infrastruktur, sozial gestaffelte Förderprogramme oder direkte Finanzhilfen.

Eine Rücknahme des lange umstrittenen Heizungsgesetzes nach der Wahl erwartet der Rat nicht. Diese Absicht halte er für »gefährlich«, sagte Expertenrats-Chef Hans-Martin Henning. Das Gesetz stelle inzwischen ein »Gesamtpaket« dar, das zusammen mit der kommunalen Wärmeplanung »in sich stimmig« sei.

Der Expertenrat wies auch Forderungen zurück, die Klimapolitik aus wirtschaftlichen Erwägungen abzuschwächen. »Wir dürfen die strukturellen und konjunkturellen Probleme der Gegenwart nicht ausschließlich aus den Maßnahmen der Treibhausgas-Minderungspolitik ableiten«, betonte Thomas Heimer vom Expertenrat dazu. Zwar ergäben sich, so der Ökonom, aus der Klimapolitik Erschwernisse wie beim Strompreis, aber eben auch die Marktführerschaft in innovativen und nachhaltigen Branchen wie der Windenergie. »Wir müssen schauen, wo die Weltmärkte der Zukunft liegen, die durch deutsche Unternehmen und damit deutsche Arbeitsplätze bedient werden können«, sagte Heimer.

Für die künftige Politik empfiehlt der Expertenrat, zivilgesellschaftliche Gruppen stärker in die Zukunftsdebatten einzubeziehen und einen zentralen Koordinierungsmechanismus einzurichten, zum Beispiel das Klimakabinett wieder einzuführen. Diese »vielversprechende« Option würde laut Henning die Gesamtverantwortung der Regierung widerspiegeln.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.