Digitale Balance gesucht

Studie zeigt Nutzen eines Therapieangebotes gegen Internetsucht

Wo das am Sonntagmorgen immer und über Stunden so aussieht wie hier in der ARD-Serie »MaPa«, sollte das Nutzungsverhalten schon mal hinterfragt werden.
Wo das am Sonntagmorgen immer und über Stunden so aussieht wie hier in der ARD-Serie »MaPa«, sollte das Nutzungsverhalten schon mal hinterfragt werden.

Bis zu 16 Stunden täglich spielte Florian Buschmann am Computer. Noch als Schüler stellte er sich den Wecker, um nachts aufzustehen und dann zu zocken. Aus dem realen Leben verabschiedete er sich, meldete sich krank. Auch Freunde und Sport wurden immer unwichtiger. »Ich hatte Zitteranfälle und krasse Entzugssymptome«, berichtet er. Damals habe er nicht gewusst, dass es für sein Problem Hilfe gibt. Heute geht er selbst an Schulen und klärt über das Suchtpotenzial der Online-Medien auf.

Zu Wort kam Buschmann am Mittwoch auf einer Veranstaltung des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK). Dort wurde über ein neues Therapie-Konzept informiert. Vorgestellt wurde das Projekt Scavis, ein dreistufiger Ansatz zur Versorgung internetbezogener Störungen. Auslöser können Spiele sein, das Posten oder Liken von Beiträgen auf Social-Media-Plattformen oder auch Online-Shopping – jeweils in einem Übermaß. Wie bei anderen Süchten gibt es hier die verschiedensten Ausprägungen, das Verhalten ist anfangs vielleicht »nur« riskant, aber es kann auch medizinisch relevant werden. Die WHO hat das mit der Anerkennung der Internet Gaming Disorder als Krankheit nachvollzogen.

Etwa zwei bis fünf Prozent der Deutschen leiden bereits an einer Störung der Internetnutzung.

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Auch aktuelle Zahlen zeigen, dass es hier ein reales Problem gibt, denn etwa zwei bis fünf Prozent der Deutschen leiden bereits an einer Störung der Internetnutzung. Rund zehn Prozent zeigen problematisches Nutzerverhalten. Bei den 12- bis 14-Jährigen verdoppelte sich die Abhängigkeit von 2011 bis 2019, wobei Mädchen stärker betroffen sind.

Internetbezogenen Störungen gehören zu der Gruppe nicht stoffgebundener Süchte, bei denen bestimmte Verhaltensweisen zwanghaft wiederholt werden. Der Umgang damit ist dadurch gekennzeichnet, dass es so gut wie keine systematische Frühintervention gibt. Das sollte unter dem Dach von Scavis geändert werden. Zwölf Betriebskrankenkassen beteiligten sich an der Studie. Ihr Ziel war es, ein bedarfsgerechtes, individualisiertes und einfach strukuriertes Angebot zu machen.

Rekrutiert wurden – zunächst mit etlichen Mühen durch Pandemie-Beschränkungen – 962 Teilnehmer von 16 bis 64 Jahren, jeweils mit einer schon erkannten Störung bei der Internetnutzung. Die Probanden hatten bereits mit Folgeproblemen zu kämpfen, darunter Vereinsamung, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme. Etwa die Hälfte der Teilnehmer wurde der Interventionsgruppe zugeordnet, sie erhielten Zugang zu einer speziellen App und zu einer 15-wöchigen Online-Therapie sowie eine Telefonberatung. Die Vergleichsgruppe bekam nur Informationen über mögliche Hilfen bei problematischem Verhalten.

Mit der App konnten die Probanden das eigene Online-Verhalten systematisch erfassen und analysieren. Zum individuellen Feedback gehörten praktische Tipps zur digitalen Balance. Der Begriff ist berechtigt, denn soziale Medien wie Instagram, Whatsapp oder Tiktok machen auch Spaß und viele Informationen zugänglich. Da der Umgang damit aber eher intuitiv erfolgt als bewusst erlernt wird, ist es sinnvoll, das eigene Verhalten zu reflektieren beziehungsweise das erst einmal zu lernen. Einfach wird das vermutlich auch in Zukunft nicht, denn die Unternehmen hinter den Anwendungen verdienen Geld damit, dass die Online-Zeit immer wieder verlängert wird.

Zumindest im Rahmen von Scavis funktionierte das Angebot, das durch professionelle Beratung ergänzt werden konnte. Der gestufte Ansatz erwies sich als wirksam, denn in der Interventionsgruppe zeigte sich ein deutlicher Rückgang der Suchtproblematik. Starke Beeinträchtigungen im Alltag wie Schulschwänzen oder die Vernachlässigung der beruflichen Arbeit seien um bis zu 50 Prozent zurückgegangen, berichtet Hans-Jürgen Rumpf, Professor für Psychologie an der Universität Lübeck und wissenschaftlicher Leiter der Studie. Der Ansatz zeigte zudem in allen Altersgruppen Wirkung.

Unterstützt wurde die Studie vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), ein Gremium, in dem Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen über die Finanzierung neuer Versorgungsansätze entscheiden. Der G-BA verfügt über einen Innovationsfonds, mit dem neuartige Versorgungsformen zunächst für wenige Jahre gefördert werden können. Dann wird entschieden, ob sie in die Regelversorgung übergehen und die Krankenkassen sie damit auch finanzieren müssen. Für Scavis gibt es noch keine Entscheidung. Sollte sie doch negativ ausfallen, werden einige Betriebskrankenkassen einen entsprechenden Selektivvertrag anbieten. Das heißt, Versicherte können dann zum Beispiel App und Beratung kostenfrei nutzen, wenn sie einem solchen Vertrag mit ihrer Kasse zustimmen.

Über Scavis hinaus wurde auf der BKK-Veranstaltung auch über notwendige politische Schritte im Themenfeld Internetsucht gesprochen. Psychologe Rumpf hält neben Frühintervention und Prävention auch mehr Forschung für wichtig. Noch wisse man zum Beispiel nicht, wie viele Menschen genau in Deutschland betroffen seien.

Florian Buschmann, der sich 2018 aus seiner eigenen Abhängigkeit löste, studiert inzwischen Psychologie. Mit seiner Initiative Offlinehelden erreichte er 2024 nach eigener Auskunft 13 000 Menschen, unter anderem mit Workshops in Schulen. »Aber wir müssen auch schon in Kitas gehen und dort die Eltern ansprechen. Denn eingeschult werden Kinder, die schon Fortnite spielen.« Freigegeben ist dieses mehrfach ausgezeichnete Spiel ab 12 Jahren.

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