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Als die Welt eine Discokugel war

50 Jahre Disco – die Geschichte einer euphorischen Bewegung in acht Songs

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.
Hedonistisches Proletariat: Karen Lynn Gorney und John Travolta in »Saturday Night Fever«
Hedonistisches Proletariat: Karen Lynn Gorney und John Travolta in »Saturday Night Fever«

Mit einem Mal gab es kein Halten mehr. 1975 war das Jahr, in dem Disco durch die Decke ging. Im wörtlichen Sinn: Keller und Wirtshäuser wurden auf die Schnelle zu Diskotheken umgebaut. Zu verlockend war die Aussicht, mithilfe von Barry White und Donna Summer ein Vielfaches an Umsatz zu erzielen. Mit Erfolg. Die ZDF-Krimiserie »Der Kommissar« – der Seismograf des westdeutschen Zeitgeists von 1969 bis 1976 – widmete die Folge »Ein Playboy segnet das Zeitliche« dem Innenleben einer Münchner Edeldiskothek. Was machte die Faszination von Disco aus? Lassen wir die Lieder selbst sprechen!

The Nolans: »I’m In The Mood For Dancing«

Rebellion durch Musik: Da denkt man an lärmende Gitarren, an Punk und Grunge. Violinen und Bratschen dürften einem kaum in den Sinn kommen. Und doch beförderten diese Instrumente eine Revolution, die bis heute nachwirkt: Disco.

Denn die frühen Discoproduktionen mit ihrer Vorliebe für Streichorchester waren Independent-Musik. Und der Ort, an dem sie gespielt wurden, war Underground. Hier, in der Diskothek, konnten Arbeiterkinder ihre Sehnsucht nach Glamour ausleben (wie John Travolta in seiner berühmten Rolle in »Saturday Night Fever«), brauchten Homosexuelle sich nicht zu verstecken und erfuhren Schwarze künstlerische Anerkennung. Rasch wurde Disco zum Massenphänomen. Selbst Rod Stewart (»Da Ya Think I’m Sexy«) und die Rolling Stones (»Miss You«) verirrten sich unter die Discokugel.

Und manche, wie die Nolan Sisters, verdanken Disco sogar eine Weltkarriere. Bis heute sind sie die einzige irische Band, die in Japan eine Nummer 1 hatte. Zu Recht! »I’m In The Mood For Dancing« ist purer Euphoriestoff. Mit Sängerin Bernice Nolan als Gute-Laune-Bolzen, die selbst eine Gloria Gaynor als Trauerkloß erscheinen lässt.

Bee Gees: »Stayin’ Alive«

»Freedom« ist eines der Lieblingswörter der Populärmusik. Doch die Freiheit hörte in dem Augenblick auf, in dem es um Hautfarbe ging. Nicht zufällig sprach man von »Black Music«, wenn man Soul und Funk meinte. Rock und Country hingegen galten als weiße Domänen. Disco hingegen war von Anfang an farbenblind. In Barry Whites Love Unlimited Orchestra und bei KC and the Sunshine Band (»That’s the Way I Like It«) musizierten Schwarze und Weiße miteinander. Jener KC (Harry Wayne Casey) wiederum produzierte als Weißer den Megahit »Rock Your Baby« des Schwarzen George McCrae.

Spätestens mit dem Soundtrack zu »Saturday Night Fever« (1977), der The Trammps, Tavares und Kool & the Gang mit den Bee Gees vereinte, hatte sich das Thema Hautfarbe erledigt. Dort findet sich auch der Discohit »If I Can’t Have You« von Yvonne Elliman. Sie ist gebürtige Hawaiianerin, ihre Mutter Japanerin.

Jan Delay: »Disko«

Schon seltsam: Da gibt es einen Ort, der Millionen von Menschen glücklich gemacht hat. Viele haben hier ihren Partner fürs Leben gefunden (oder wenigstens für eine Nacht). Ja, selbst jene, die allein nach Hause gingen, waren oft berauscht, elektrisiert. Dennoch kommt dieser Ort im Kino praktisch nicht vor. Kaum ein Film, dessen Handlung dort spielt. Jenseits von »Saturday Night Fever« und »Studio 54« tut sich eine Wüste auf.

Zum Glück stößt man hier und da auf eine Oase. Zum Beispiel »Dancin’ Thru The Dark«, ein Kronjuwel des New British Cinema, der zeigt, wie ein Discoabend aus dem Ruder läuft – bis zur düsteren Eskalation. Oder jene lange Szene aus Spike Lees »25 Stunden«, in der Philip Seymour Hoffman als verklemmter Lehrer in einer Disco die Hemmung und die Nerven verliert (was aufs Gleiche hinausläuft). In solchen seltenen Filmmomenten kann man das Wesen der Disco erfühlen: die fiebrige Unruhe, das Flirrende, die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten.

Klingt zu theoretisch? Dann hören wir doch mal, was Jan Delay dazu zu sagen hat: »Und du sagst, dir fehlt der Inhalt in den Dancen. Sorry, doch zu deinem Abitur, da kann ich nicht tanzen. Und darum lieben wir die Disko. Ja, darum ziehn wir in die Disko, feiern übertrieben in der Disko. Lauter Sound und bunte Lichter – Disko. Lassen uns von innen glitzern – Disko!«

Re-Flex: »The politics of dancing«

Politik war mal die uninteressanteste Sache der Welt. Etwas, worüber Sozialkundelehrer sprachen, was aber mit dem eigenen Leben nichts zu tun hatte – weil darin aufregendere Dinge geschahen. Politik war das reale Leben. Und das fand nicht statt in staatlichen Lehr-, sondern in privaten Versuchsanstalten namens Diskotheken. Hier erlebte man, wie eine Welt ohne die üblichen Hirnwaschprogramme (Nation, Religion, Ideologie) aussah.

Es war eine Welt, in der der Plattenteller regierte. Denn: »The politicians are now DJs.« Deren Parteiprogramm war einfach: »The politics of dancing, the politics of feeling good, the politics of moving – is this message understood?«

Natürlich verstanden wir die Botschaft. Jedes Wochenende fanden wir das Glück unter der Discokugel. Und weil glücklichere Menschen auch bessere sind – kein Neid, kein Hass –, wurde auch die Welt, in der wir lebten, ein bisschen besser.

Marlene Rosenberg: »Wieder zusammen«

Es war die Zeit, als der Schlager (engl. »Hit«) noch Hits produzierte, indem er jeden internationalen Trend adaptierte. Selbst Discomusik wurde in der Schlagerfabrik zum »Made in Germany«-Erzeugnis.

Keiner war darin besser als Joachim Heider, Komponist und Produzent für Marianne Rosenberg. Sein »Er gehört zu mir« klingt wie ein Remix von Barry Whites »You’re The First, The Last, My Everything«, also großartig. »Ich bin wie du« und »Lieder der Nacht« halten das hohe Niveau. Wie perfektionistisch an Heiders Hit-Fließband gearbeitet wurde, demonstriert »Wieder zusammen«, die B-Seite von Marianne Rosenbergs Single »Marleen«. Es ist ein Discostück aus dem Lehrbuch – weshalb es der Song auf den Sampler »Disco Deutschland« schaffte.

The Love Unlimited Orchestra: »Sweet Moments«

Wenn die Hedonisten des Nachtlebens sich müde getanzt hatten, stand ihnen der Sinn nach ruhigeren Sounds. Nach Klängen, die die Stimmung des Dancefloors aufgriffen, aber die Beatzahl runterfuhren. In den 90er Jahren nannte man diesen entspannenden Ansatz Chillout, in den 70ern Barry White.

Denn der King of Disco lieferte als Sänger, Komponist und Produzent nicht nur Balzmaterial für die Tanzdielen der Welt, sondern auch den Soundtrack für hinterher. Gemeinsam mit seinem 40-köpfigen Love Unlimited Orchestra wob er Klanggewänder, die sich wie Satinbettwäsche um die Zuhörer legten. So läutete sein Orchester »sweet moments« ein. Also Sex.

Gilla: »Tu es«

Wenn es um Sex ging, waren Schlagertexte wie das »Neue Deutschland« zu DDR-Zeiten – die Botschaft stand zwischen den Zeilen. So ist »Sweety« (1962) von Peter Kraus ein Lied über Triebstau (»Heute Abend gibt es Mondschein, und dann möchte ich belohnt sein für die lange, lange Wartezeit«). Auch in Peter Alexanders »Komm und bedien dich« (1968) weist die Hose eine bedenkliche Ausbeulung auf (»Komm und bedien dich bei mir, denn mein Herz und was dazugehört ist dein«).

Deutlicher traute man sich nicht zu werden. Dann kam Gilla (bürgerlich: Gisela Wuchinger). Eine Frau mit rauchiger Stimme, die Männerfantasien befeuerte. Produzent Frank Farian, der gerade mit Boney M. die Weichen für eine Weltkarriere stellte, erkannte das Potenzial. Er ließ Gilla den Labelles Discohit »Voulez-vous coucher avec moi (Lady Marmalade)« deutsch einsingen: »Willst du mit mir schlafen gehen?« So unverblümt hatte noch keine Schlagersängerin den Wunsch nach Geschlechtsverkehr formuliert. Weil diese Direktheit ankam, setzte Farian mit »Tu es« noch einen drauf: »Doch wenn keiner anfängt, dann geschieht es nicht. Darum sag ich: Baby, du hast grünes Licht. Oh Baby, tu es, mir ist danach zumut. Oh Baby, tu es, ich weiß, du machst es gut.«

Alexander O’Neal: »Fake«

Der Film »The Last Days of Disco« (1998) spielt Anfang der 80er. Das ist nicht ganz korrekt; die letzten Tage von Disco fanden 1987 statt. Kurz darauf begann in Ibiza der Siegeszug von Acid House, der bald darauf in Techno münden sollte. Damals aber, bevor Disco zum Fall für Retromaniker wie Jamiroquai und Daft Punk wurde, versuchte man dem schwächelnden Genre neues Leben einzupumpen. Nie klangen Disco-Beats wuchtiger und voller als Mitte der 80er. Und niemand schlug härter zu als Jimmy Jam & Terry Lewis. Die beiden produzierten Beats, die den ganzen Körper vibrieren ließen. Wer dazu sang, war zweitrangig. Ob Janet Jackson (»Nasty«) oder Human League (»Human«) – keine Stimme vermochte sich gegen die Schläge von Jam & Lewis zu behaupten.

Halt, eine schon! Die von Alexander O’Neal. Wenn er sang, fanden die brutalen Beats ihren Gegenpart. Man spürte: Dieser Mann konnte ebenfalls zuschlagen. Was nicht überraschte: O’Neal war vorher Zuhälter gewesen.

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