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Ein Jahr auf dem Lande
Berlinale Wettbewerb: »Sheng Xi Zhi Di« von Huo Meng zeigt die Veränderungen im Dorfleben in China
Es sind immer die uralten Frauen, die dem Dorf ihr Gesicht geben. Das war so in Valentin Rasputins »Abschied von Matjora«, und das ist so in Huo Mengs »Sheng Xi Zu Di«, der auch unter dem englischen Titel »Living the Land« angekündigt wurde. Was wissen wir über das Leben auf dem Lande, von China im Jahre 1991? Eher wenig.
Der Film nimmt sich Zeit, das zu ändern. In langsam schweifenden Bildern entsteht hier in zweieinhalb Stunden eine Milieustudie, die auch zur Sittengeschichte wird. Nicht wie bei Turgenjew, der in seinem Stück »Ein Monat auf dem Lande« die Komödie des Landlebens Mitte des 19. Jahrhunderts zum Thema machte, sondern hier sitzen wir ein ganzes Jahr lang in jenem Dorf fest, in dem der zehnjährige Chuang abgegeben wurde. Die Eltern brachten ihn aus der Stadt zu Verwandten, weil sie arbeiten müssen. Muss man auf dem Land nicht arbeiten? Doch, aber anfangs scheinen hier Leben, Arbeiten und Sterben noch in einem ursprünglichen Gleichgewicht zu stehen.
Wir blicken mit Chuang auf das Dorfleben. Da gibt es die Tante, den Onkel, die Oma, den Opa und die Ur-Oma. Haben sie Namen? Vielleicht, die Ur-Oma sagt, sie sei immer die »Dritte der Schwestern« genannt worden. Wie alt die Dörfler sind, ist auch unklar. Der eine wurde im Jahr des Pferdes geboren, der andere im Jahr des Schafes. Das stört aber nicht weiter. Man lebt hier im Rhythmus der Jahreszeiten – und auch Huo Meng drehte ein Jahr lang in allen vier Jahreszeiten.
Gleich am Anfang findet eine traditionelle Beerdigung statt. Klageweiber umringen die Trauernden, ab und zu unterbrechen sie ihr Geschrei, um kühl einige praktische Dinge zu klären. Der Sarg wird vom ganzen Dorf begleitet, es gibt –wie immer und überall in China – Feuerwerkskörper, die explodieren, Papier wird verbrannt, Reden gehalten. Alles folgt einer uralten Dramaturgie. Wie empfindet Chuang das? Fremd, allein die Ur-Oma ist ihm nah. Sie ist freundlich zu ihm, gibt ihm Halt und Wärme in der neuen Umgebung. Doch der Rest der Familie, wie auch die übrigen Dorfbewohner, haben eine grobe Art, miteinander umzugehen. Man redet nicht, sondern schreit. Man stößt und schlägt sich bei jeder Kleinigkeit.
In langsam schweifenden Bildern entsteht eine Milieustudie, die auch zur Sittengeschichte wird.
Eine Idylle ist das Leben auf dem Dorfe also nicht, eher eine Notgemeinschaft, wo jeder auf den anderen angewiesen ist. Aber das beginnt sich im Laufe dieses einen Jahres dramatisch zu verändern. Als Erstes taucht eine Familienplanungskommission auf, kontrolliert, wer hier wie viele Kinder hat. Schon drei? Da wird die Frau mit Sterilisation rechnen müssen, eine hohe Strafe wird zusätzlich fällig. Die Regierung in Peking hatte längst die Ein-Kind-Politik ausgerufen, um das Bevölkerungswachstum zu stoppen, aber bis die Nachricht auch in diesem entlegenen Dorf ankommt, dauert es etwas länger.
Doch immer häufiger geraten sie ins Bild, die glatt rasierten Funktionäre in ihren Anzügen, die unter den zottigen Dörflern wie Abgesandte aus einer anderen Welt wirken. Sie schreien nicht, sondern reden gesetzt und lächeln dazu. Der Anbruch der neuen Zeit wird augenfällig, als es im Dorf erstmals Eis am Stiel gibt. Nicht nur die Kinder wollen es probieren, jetzt, mitten im Sommer. Aber das Eis kostet Geld – und die Eltern schütteln die Köpfe, als ihre Kinder sie bestürmen. »Wir sind das ärmste Dorf der Welt«, ruft einer der Dorfjungen voll Wut angesichts des ihm aufgezwungenen Konsumverzichts.
Bald kommt auch ein Traktor, die Stromleitung wird endlich repariert, das Dorf versammelt sich nun vor dem Fernseher. Bislang spielte Geld keine Rolle, man tauschte Weizen gegen Baumwolle, Gemüse oder Tiere. Doch nun wissen alle, dass man in der Stadt anders lebt. Man kann sich die unwahrscheinlichsten Dinge kaufen, wie man sie im Fernsehen sieht. Dazu braucht man Geld. Auf dem Dorf aber gibt es nichts zu verdienen – also beginnen die Jungen hastig fortzugehen, in die Städte mit ihren Fabriken.
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Auch ins Dorf kommt nun ein anderer Typus Mensch, Aufkäufer für Baumwolle etwa. Sie betrügen die Bauern: »Du siehst so jung aus, aber bist so herzlos«, klagen die Alten erbittert. Plötzlich sind alle unzufrieden hier. So haben wir teil an einer Entwicklung, die sich anderswo schon Jahrzehnte früher vollzog: die Durchkapitalisierung einer traditionellen Gesellschaft. In China vollzog sie sich im Expresstempo – und unter Führung der kommunistischen Partei.
All dies fängt »Living the Land« wie in einem Zeitraffer ein. Und Chuang, der Zehnjährige, sieht es mit Kinderaugen und hört die immer ferner klingenden Geschichten der Ur-Oma. »Kauf dir Bücher, dann kannst du dein eigenes Leben haben!«, sagt ihm diese einfache Frau, die nicht mitrennt, wenn sie alle rennen, aber nicht wissen, wohin.
Dieser Film hat nicht das, was man im Neusprech einen Plot nennt, er taucht ein ins Landleben mit seinen kleinen Tragödien und Komödien, die aber für die Menschen hier von Gewicht sind. Die Kamera schwimmt gleichsam mit im Strom der Zeit. Da ändert sich vieles in rasantem Tempo, anderes bleibt sich gleich.
Geboren und gestorben wird am Ende immer noch wie am Anfang. Aber die Art und Weise verändert sich: Als die Ur-Oma ohne Namen stirbt, wird sie im Krematorium verbrannt. Zeit ist Geld, auch hier. Die Langsamkeit des Dorfes müssen sie sich nun abgewöhnen. Man fährt jetzt mit einem vom neuen Traktor gezogenen Anhänger zur Grabstätte, die nicht mehr als ein schmuckloses Loch im Boden ist. Längst ist nicht mehr das ganze Dorf dabei. Chuang hält die Urne umklammert wie einen letzten Halt. Doch dann rutscht sie ihm aus den Armen, fällt zu Boden und zerbricht – ein Teil der Asche fliegt im Wind davon. Ein Hoffnungszeichen?
»Sheng xi zhi di / Living the Land«, Buch/Regie: Huo Meng. Mit Wang Shang, Zhang Chuwen, Zhang Yanrong, Zhang Caixia, Cao Lingzhi. China 2025, 132 Min. 15.2. Urania, 10 Uhr, City Kino Wedding, 14 Uhr, Uber Music Hall, 18 Uhr, 16.2. Haus der Festspiele, 20.45 Uhr
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