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Hanau: Geschichte einer Selbstermächtigung
Hinterbliebene und Überlebende des Anschlags von Hanau erheben seit fünf Jahren ihre Stimme
Der Schmerz über den Verlust ihres Sohnes Ferhat hat in Serpil Temiz Unvar ungeahnte Kräfte freigesetzt. Bereits neun Monate nach dem Mordfeldzug eines Rassisten im migrantisch geprägten Hanau-Kesselstadt hat sie die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet – am 14. November 2020, dem Tag, an dem er 24 Jahre alt geworden wäre. Denn das Nachdenken über ihn hat bei ihr zu der Erkenntnis geführt, dass das deutsche Bildungssystem Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien stark benachteiligt, dass sie faktisch besser sein müssen als der »Rest«, um Erfolg zu haben.
Ziel der Bildungsinitiative ist es einerseits, das Selbstbewusstsein von Kindern und Jugendlichen zu stärken, sie zu ermutigen, sich selbst auszudrücken und Pläne für das eigene Leben zu entwickeln. Andererseits bietet der Verein Lehrerinnen und Lehrern, die nicht selbst von Rassismus betroffen sind, Sensibilisierungsworkshops und Unterrichtsmaterialien an.
Auch auf der Gedenkdemo zum fünften Jahrestag des Anschlags am Samstag in Hanau sprach Serpil Unvar vor Hunderten Teilnehmenden. Und rief unter andrem zur Teilnahme an der Bundestagswahl auf: »Wählen zu gehen ist sehr wichtig. Danach kämpfen wir weiter für Zusammenhalt und gegen die Spaltung der Gesellschaft.« Seit der Nacht des Verbrechens, sagte Unvar der »Frankfurter Rundschau« dieser Tage, habe sie »kein normales Leben mehr«. Sie kämpfe »praktisch jede Sekunde, jede Minute« gegen das Vergessen. Auch die drei Geschwister von Ferhat engagieren sich gegen Rassismus.
»Die einzigen, die Konsequenzen getragen haben, sind wir gewesen.«
Said Etris Hashemi Überlebender des Anschlags von Hanau
Einer, der den Mordfeldzug des Deutschen Tobias R. an jenem 19. Februar schwer verletzt überlebte, ist Said Etris Hashemi. Er, damals 23, wurde von mehreren Schüssen in den Hals und am Schlüsselbein getroffen. Sein »kleiner Bruder« Said Nesar Hashemi, 21, starb neben ihm.
Wie Serpil Unvar ging Hashemi an die Öffentlichkeit, als er merkte, wie gering der Wille der hessischen Landesregierung und der Behörden war, eigene Versäumnisse, eigenes Fehlverhalten in der Tatnacht aufzuarbeiten. Letzteres erlebte Hashemi selbst. Statt psychotherapeutischer Unterstützung erhielt er kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erst einmal eine sogenannte Gefährderansprache: Polizisten warnten ihn – und andere Angehörige und Überlebende – davor, Racheakte gegen den Vater des Attentäters, ebenfalls für seine extrem rechte Gesinnung bekannt, zu planen.
Seine Erfahrungen schildert Hashemi in seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Buch »Der Tag, an dem ich sterben sollte«. Auf einer Lesung erzählte er, ihm sei unter anderem durch die Gefährderansprache klar geworden, wie die Polizei über ihn und andere Opfer denke: Sie seien eben »Kanacks«, die irgendeinen Racheakt planten. Seine bittere Erkenntnis: »Die einzigen, die Konsequenzen davon getragen haben, sind wir gewesen.« Nur, weil Hashemi und andere ihre Stimme erhoben, ist bekannt, dass deutsche Behördenvertreter in Hanau wieder einmal Täter-Opfer-Umkehr betrieben, dass die Betroffenen durch rassistisches Verhalten von Polizisten und anderen Amtspersonen nach der Tat weitere Traumatisierungen erlitten.
Außer Ferhat Unvar und Said Nesar Hashemi wurden bei der Mordserie auch Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu und Kaloyan Velkov getötet. Die Bedeutung des Anschlags für die Gesellschaft dieses Landes hob die Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD) hervor. Sie warf Politik und Gesellschaft schwere Versäumnisse vor. »Hanau hätte Zäsur und Weckruf sein müssen, war es aber nicht«, sagte Alabali-Radovan am Dienstag in Berlin. »Rassistische Positionen nehmen sich immer mehr Raum und polarisierte Debatten in Politik und Parlamenten über Flucht und Migration stigmatisieren immer wieder Menschen mit Einwanderungsgeschichte«, erklärte sie. Bei vielen von ihnen löse dies Angst aus, »dass sie als Nächstes dran sind«.
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»Neun Menschen wurden in Hanau ermordet, aber gemeint war jeder Vierte im Land, nämlich 21 Millionen mit Einwanderungsgeschichte«, sagte die Staatsministerin im Bundeskanzleramt. »Wir müssen fünf Jahre danach endlich verstehen, dass der Anschlag von Hanau nicht im luftleeren Raum geschah, der Schauplatz war unsere Gesellschaft. Hanau ist überall wieder möglich, denn Rassismus tötet.«
An diesem Mittwoch findet in Hanau eine offizielle Gedenkfeier statt, auf der neben Angehörigen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen soll. Am Abend soll es Mahnwachen vor den Tatorten geben. Bundesjustizminister Volker Wissing erklärte am Dienstag: »Rechtsterroristische Taten wie die von Hanau richten sich stets auch gegen unser Selbstverständnis als offene und vielfältige Gesellschaft.« Der Ex-FDP-Mann mahnte in Anspielung auf die aktuellen Auseinandersetzungen um mehr Abschiebungen und Zurückweisungen Schutzsuchender: »Wir dürfen uns auch in Zeiten intensiver politischer Debatte nicht spalten lassen.«
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