- Wirtschaft und Umwelt
- Wärme-Contracting
Frau Michel gegen die Energie-Lobby
In Magdeburg steht das Haus mit den höchsten Heizkostennachzahlungen Deutschlands. Eine Mieterin zieht dagegen vor Gericht
Diesen Februar ist es kalt in Magdeburg. Der Hauptbahnhof ist, bis auf zwei Mitglieder der Zeugen Jehovas, die Propagandamaterial verteilen und einige wenige zitternde Personen, die auf einen, laut Lautsprecherdurchsage »etwa 106 Minuten« verspäteten Zug warten, gespenstisch leer. Auch auf die Straßen wagt sich im Schneegestöber beinahe niemand – die ganze Stadt scheint sich in ihre gewärmten Wohnungen zurückgezogen zu haben.
Nicht so Isabell Michel. Die 50-jährige Altenpflegerin mit kurzen, knallrot gefärbten Haaren, heizt auch bei Nullgraden nur »ihre Stube«, also ihr Wohnzimmer. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung liegt in einem Plattenbau des Stadtteils Reform. Das Gebäude hat 120 Mieteinheiten, wenige der Balkone schmückt Dekoration, vor zwei von ihnen flattern Deutschland-Flaggen. Michel arbeitet im Schichtdienst und lebt sparsam. Deswegen heizt sie ihre gesamte Wohnung nur, wenn die Außentemperaturen unter Minus Zehn Grad liegen. »Man will ja auch einmal Urlaub machen«, stellt sie, etwas schüchtern, fest. Darum war der Schock im November 2023 besonders groß. Ihre Betriebskostenabrechnung betrug 3227 Euro mehr, als sie im Vorjahr bezahlt hatte. Michel kichert nach beinahe jedem Satz, nicht nach diesem. Denn das musste sie »erst einmal verarbeiten«.
Um die Ecke des verschneiten Bahnhofs liegt das Büro des Magdeburger Mietervereins. An der Rezeption, gut bewacht von einem einäugigen Schäferhundmischling namens Rex, flatterten Ende 2023 viele Anfragen zu Betriebskosten ins Haus. »Anfangs haben wir uns nicht viel dabei gedacht«, erinnert sich Zakaria Said, Rechtsberater des Deutschen Mieterbunds. Schließlich seien die steigenden Gaspreise in aller Munde gewesen, der Fall von Frau Michel war einer von vielen. Doch in der Reformer Platte kletterten die Nachzahlungen in irritierende Höhen – sie stiegen um 250 Prozent, zum Teil auf 6000 bis 7000 Euro im Jahr, so Said. Die Energiekosten erreichten, bezogen auf die Wohnfläche, »absolute Spitzenwerte«. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk berichtete.
Und dem Mieterverein fiel noch etwas auf: Die Kosten waren hier nicht nur auf die gestiegenen Gaspreise zurückzuführen, sondern entstanden durch die Wärmelieferung des sogenannten »Wärme-Contracting«. Das bedeutet: Der Vermieter einer Immobilie lagert den Betrieb und die Bereitstellung von Wärme an einen externen Dienstleister, den Contractor, aus und muss sich dadurch nicht mehr um Verträge mit Energieversorgern kümmern oder die Heizanlage renovieren oder erneuern, spart sich also Kosten und Arbeit. In der Platte von Frau Michel wurde auch der Keller des Gebäudes an den Contractor weitergereicht; der Vermieter hat dadurch zusätzliche Einnahmen. Der Contractor dagegen verdient sein Geld über Energiekosten, die an Mieter*innen weitergegeben werden – und profitiert vom hohen Energieverbrauch.
Symbolisch für Contracting leuchtet das Hundertwasser-Haus in der Magdeburger Innenstadt. Die goldenen Kuppeln und asymmetrischen Fenster erinnern an den berühmtesten Bau des österreichischen Künstlers: Die Fernwärme Wien. Passend, denn Contracting fällt unter das inzwischen über 40 Jahre alte Fernwärmegesetz. Die Kosten für Mieter*innen setzen sich hier aus einem Grund- und einem Arbeitspreis zusammen. Zweiterer wird durch eine komplexe Formel berechnet. In Frau Michels Fall beinhaltet sie neun Variablen und orientiert sich unter anderem an der Leipziger Strompreisbörse, also an Börsenspekulationen. Die betreffenden Betriebskostenabrechnungen sowie die Verrechnungen des Contractors liegen »nd« vor. Viele Mieter*innen der Magdeburger Platte ließen sich Ende 2023 von der Komplexität und folgenden Mahnungen einschüchtern. »Mit den Preisen kennt man sich ja nicht aus«, fasst Frau Michel ihre Überforderung zusammen.
»Ein Energieunternehmen soll Energie sparen, obwohl es sein Geld mit dem Energieverbrauch macht.«
Zakaria Said Mieterverein Magdeburg
Dabei steckt hinter dem Gesetz eigentlich eine »romantisierende ökologische Vorstellung«, wie Said es ausdrückt. Der Contractor, der in der Regel mehr Überblick über den Markt habe und bessere Verträge an Land ziehen könne, solle neue, CO2-sparende Heizungsanlagen einbauen. Im besten Fall solle der Vermieter darüber hinaus das gesparte Geld nutzen, um in klimaeffiziente Wärmedämmung zu investieren. »Ein Energieunternehmen soll Energie sparen, obwohl es sein Geld mit dem Energieverbrauch macht« fasst Said das Dilemma zusammen. Er spricht dabei sehr bedacht. »Das Problem trägt, zumindest in Magdeburg, den Namen Getec«, polemisiert er zum Schluss doch ein wenig und nimmt einen Schluck Soda.
Der Energiekonzern Getec, der auch die Platte von Frau Michels versorgt, hat seinen Magdeburger Standort einen Steinwurf von Saids Büro entfernt: Ein Glaskasten inmitten bunter Reihenhäuser. Daneben wirbt ein Lokal der Arbeiterwohlfahrt mit Plakaten für eine »gute Nachbarschaft«. Laut Website geht es der Getec um »nicht weniger als die Bewahrung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen«.
Das überzeugt Sabine Rösler nicht. Die 65-jährige Rentnerin trägt mit Vorliebe schwarz, bezeichnet sich selbst als den inoffiziellen »zweiten Hausmeister« der Magdeburger Platte und heizt aus Prinzip nicht. Sie wohnte schon vor der Wende in dem Gebäude, als das Haus noch eine Genossenschaft war und erlebte mit, wie es verkauft- und die Energieversorgung an Getec übergeben wurde. Dass die Heizungsanlage seitdem ausgetauscht wurde, kann sie sich nicht vorstellen. Dafür kann sie sich an Sommer erinnern, in denen trotz 30 Grad im Schatten die Heizungen ansprangen – um den Energieverbrauch und damit die Preise in die Höhe zu treiben, meint sie.
Die Getec Group reagierte nicht auf eine »nd«-Anfrage zu den Vorwürfen. Dabei heißt es in der Selbstbeschreibung der Getec: »Ein schonender Umgang mit Ressourcen, nachhaltige, effiziente und digitale Energielösungen sowie die gezielte Reduzierung von Treibhausgasemissionen für unsere Kunden – das sind unser Antrieb und unsere Mission.«
Wärme-Contracting gibt es seit den 90er Jahren. Doch vor den exorbitanten Gaspreisanstiegen in der Ukraine-Krise fiel es nicht auffällig ins Gewicht. Der jetzige Vermieter von Frau Michel, die ZBVV Immobilienverwaltung, übernahm den Contracting-Vertrag von seinem Vorgänger. Ein Sprecher der ZBVV sagte dazu gegenüber »nd«, Contracting-Verträge könnten nicht kurzfristig gekündigt werden. Die steigenden Preise führt die ZBVV auf die Marktpreisentwicklung und die Inflation zurück, die »von Vermieterseite nicht beeinflusst werden« könnten.
Nach den hohen Nachzahlungen 2023 überlegten Frau Michel und einige andere Nachbar*innen, umzuziehen. »Ich kann ja nicht nur für die Heizkosten arbeiten«, sagt Michel. Kurz nachdem die Abrechnungen eintrudelten, ereignete sich ein besonders tragischer Fall in der Platte. Ein Familienvater beging Suizid. Er habe noch andere Schulden gehabt, diese seien ihm zu viel geworden, meint Frau Rösler.
Die Nachbar*innen beschlossen, tätig zu werden. Der »zweite Hausmeister« organisierte eine Whatsapp-Gruppe und klingelte mit Informationsbroschüren an den Türen von Nachbar*innen. Als schließlich die Entscheidung fiel, Frau Michel stellvertretend für alle vor Gericht zu schicken, sammelte Frau Rösler im Haus das Geld für den Eigenkostenbeitrag des Prozesses – der es in sich haben könnte.
Denn Wärme-Contracting stellt wohl, wie der Energiewirtschaftsrecht-Experte Werner Dorß betont, eine Gesetzeslücke dar. Für Contracting gibt es keine rechtliche Definition. Michel versucht es deshalb, mit Unterstützung des Mietervereins, über das sogenannte »Wirtschaftlichkeitsgebot«. Laut Paragraf 556 des Bürgerlichen Gesetzbuches muss bei der Abrechnung der Betriebskosten der »Grundsatz der Wirtschaftlichkeit« beachtet werden. Im Fall von Frau Michel bedeutet das: Dem Vermieter wird vorgeworfen, er hätte die Rechnung des Energieversorgers gezahlt, ohne zu prüfen, ob sie rechtens war. Trifft das auf Frau Michels Fall zu, sind auch die Abrechnungen aller anderen Mieter*innen in der Platte ungültig. »Alleine hätte ich mich das alles nicht getraut«, kichert Frau Michel. Bei der Verhandlung werde sie »bestimmt ganz aufgeregt sein«, ahnt sie.
Ein vergleichbares Verfahren, ausgehend von Mieter*innen, ist Said bisher nicht bekannt. Dass die Platte in Magdeburg kein Einzelfall ist, ist jedoch seit einer diesen Winter erschienenen Recherche der Plattform Correctiv klar. So wie Frau Michel geht es demnach bundesweit Hunderttausenden. Über eine Sammelklage der Verbraucherzentrale Bundesverband verklagen Vermieter derzeit die HanseWerk Natur GmbH, ein Fernwärmeanbieter im Norden Deutschlands, sowie den bundesweiten Fernwärmeanbieter E.ON. Bei beiden soll es in den letzten Jahren zu »auffallend hohen Preissteigerungen« gekommen sein.
Die verschneiten Magdeburger Straßen sind im Februar gepflastert mit Wahlplakaten. Zwischen »Silberlocken rocken« (Die Linke) und »Vater Staat ist nicht dein Erziehungsberechtigter« (FDP) haben die Parteien nicht eben die inhaltsstärksten Motive für die Stadt gewählt. Wirft man dagegen einen Blick in die Wahlprogramme, sind Energiekosten ein Fixpunkt. Zumindest Grüne und SPD fordern eine bundesweite Preisaufsicht für die Fernwärme. Erstere wollen darüber hinaus eine Preisregulierung auf langfristige Basis. Die Linke fordert zudem ein Gewinnverbot bei Wärmenetzen, um Wärmepreise unabhängig von Marktschwankungen und Spekulationen zu machen.
Zurück am Bahnhof haben auch die abendlichen Züge Verspätung. Ein paar Männer auf dem Vorplatz hören Musik. Durch das Schneegestöber tönt das Lied »House of the Rising Sun«, die 60er-Jahre Version der Folk-Rock-Gruppe The Animals. Ein Lied über ein Haus in New Orleans, das das Leben so mancher Arbeiter*innen zerstört haben soll – allerdings nicht durch Energiekosten.
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