- Kultur
- 50 Jahre »Überwachen und Strafen«
Alternative zum Marxismus
Vor 50 Jahren erschien Michel Foucaults Meilenstein »Überwachen und Strafen« und wurde zum willkommenen Ersatz materialistischer Gesellschaftstheorie
Es ist im popkulturellen Bewusstsein tief verankert, sich die gesellschaftlichen Verhältnisse wie ein Gefängnis vorzustellen: Obwohl überall Freiheit draufstehe und die bunte Vielfalt der Warenwelt locke, müsse man gerade diese Verblendung als Macht- und Regierungstechnik enttarnen – etwa so wie in John Carpenters Film »They Live«, in dem eine besondere Brille ermöglicht, die Manipulation der Medien als »Gehorche«-Befehl zu durchschauen. Diese Fantasie reicht von einem unterschwelligen Unbehagen bis in den Fanatismus, sich in einem bewaffneten Kampf gegen diese Ordnung zu begeben. Aber warum ist es so beliebt, sich gefangen und kontrolliert zu glauben?
Folgt man dem französischen Philosophen Michel Foucault, so steckt einerseits eine Wahrheit darin, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung anhand des Gefängnisses mehr oder weniger akkurat beschreiben lässt. Andererseits ist damit die verlockende Vorstellung verbunden, sich gerade so als intaktes und handelndes Subjekt begreifen zu können. Denn wo man gefangen ist, kann man schließlich ausbrechen! Zu solchen Fragen der Gesellschafts- und Selbstverhältnisse legte Foucault vor 50 Jahren sein berühmtes Buch »Überwachen und Strafen« vor – und vollzog damit eine radikale Neubegründung der Gesellschaftstheorie.
Perfekte Machttechnik
»Überwachen und Strafen« beginnt martialisch. Seitenlang schildert Foucault mittelalterliche, blutrünstige Foltertechniken bis zu öffentlichen Hinrichtungen. Sinn dieser expliziten Darstellung ist es, einen Kontrast deutlich zu machen: Die körperliche Strafe und ihre enorme Abschreckung sind in den modernen Gesellschaften sukzessive verschwunden, nicht aber ihre disziplinierenden Funktionen in der Kontrolle und Herrschaft über ganze Bevölkerungen. Statt des Körpers stand zunehmend »die Seele« beziehungsweise der Mensch selbst im Mittelpunkt der Disziplinierungen, der zugleich in den Humanwissenschaften umfassend erforscht wurde. Mit der »Geburt des Gefängnisses«, wie der Untertitel seiner Studie lautet, liefen diese Entwicklungen zusammen: Menschen wurden gezüchtigt und überwacht zugleich, untersucht und geformt.
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Foucault verdeutlicht diesen Effekt am berühmten Panopticon, jenem architektonischen Entwurf eines Gefängnisgebäudes von Jeremy Bentham. Von einem Turm in der Mitte aus haben die Überwacher ständig Einblick in jede einzelne Zelle, und »die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen«. Die Gefangenen sind vereinzelt und sich in jedem Moment unsicher, ob sie eigentlich wirklich überwacht werden. Big Brother is watching you, aber weil man nicht weiß, ob tatsächlich jemand zuschaut, muss man von einem immer präsenten Blick potenziell strafender Überwachung ausgehen. Die Menschen internalisieren das Gefängnis auf diese Weise und daraus zieht Foucault eine entscheidende Pointe: Es gehe um »die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt« und zugleich vermag so »die Perfektion der Macht (…) ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen«.
In dieser Zusammenführung von Subjektivierung und der Verbindung aus Macht und Wissen lag das eigentlich Bemerkenswerte an Foucaults Analyse. Damit verbunden ist die berühmte Umdeutung des Machtbegriffs, die nicht mehr jene zentralisierte und personalisierte souveräne Herrschaft darstelle, sondern, wie er später in »Der Wille zum Wissen« ausführt, eine »Allgegenwart der Macht«. Diese Weiterentwicklung des Machtbegriffs hatte eine spezifische Bedeutung: Sie löst einerseits ein theoretisches Problem in Foucaults Werk selbst und andererseits liefert sie damit eine Alternative zum damals verhassten Marxismus, der das linke Denken in eine Sackgasse geführt habe.
»Stürme im Wasserglas«
Mit »Überwachen und Strafen« »taucht die Politik in der Arbeit und im Leben Foucaults auf«, wie Maurice Blanchot feststellte. Tatsächlich findet sich hier der Wendepunkt, an dem Foucaults Überlegungen zu Wissensregimen und Diskursen in soziale Praktiken eingebettet werden. Foucault hatte sich in seiner Dissertationsschrift noch der Entwicklung des Wahnsinns beziehungsweise dessen konstitutiver Funktion für die Vernunft zugewandt. Seine ersten Werke waren historisierende Rekonstruktionen, die er unter den Begriff der Archäologie fasste, als »einer Beschreibung, die das schon Gesagte auf dem Niveau seiner Existenz befragt«, wie er in »Die Archäologie des Wissens« ausführt. Es ging Foucault bei diesen Diskursanalysen auch darum, an den Brüchen der Entwicklungen seine These zu demonstrieren, dass die Geschichte von grundlegender Kontingenz strukturiert ist. »Es handelt sich darum, eine Dezentralisierung vorzunehmen, die keinem Zentrum ein Privileg zugesteht«, beschreibt Foucault sein Vorgehen.
Diese radikale Dezentralisierung der Diskurse ergab jedoch auch ein Problem: Die Veränderungen innerhalb der Diskursformationen ließen sich so eigentlich nur aus sich selbst erklären, wenn sie keinen Ursprung wie etwa die ökonomische Basis mehr haben sollten. Mit seiner Neukonzeption der Macht findet Foucault dafür eine Lösung: Er denkt die Phänomene fortan nicht mehr von ihrem Ursprung beziehungsweise einem Zentrum aus, sondern von ihrer Wirksamkeit und von ihren Effekten her.
»Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser«, spöttelte Foucault.
Diese Abgrenzung gilt damals vor allem dem Marxismus und dessen ökonomischem Reduktionismus und historischem Determinismus. Foucaults Skepsis bestand darin, ob »der gegen die Unterdrückung gerichtete kritische Diskurs (…) nicht vielmehr zu demselben historischen Netz wie das, was er anklagt«, gehört. Die Vorstellungen geschichtlicher Notwendigkeit sah Foucault als organische Produkte jener bürgerlichen Ordnungen, die er für ihren Rationalismus inklusive aller Ausschlüsse von Kranken, Wahnsinnigen und Nicht-Normalen kritisiert hatte. »Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser«, spöttelte Foucault in »Die Ordnung der Dinge«, und seine Kritiken gegen die bürgerliche Philosophie »sind lediglich Stürme im Wasserglas«.
Die Unzufriedenheit mit dem Partei- und Weltanschauungsmarxismus der 60er Jahre teilte Foucault mit einer ganzen Generation junger Intelligenz in Frankreich. Seine Kritik des Wissens traf daher im Ausgang des Mai 1968 auf großes Interesse innerhalb jener Suchbewegung der vom Marxismus enttäuschten Linken. Foucault kommentiert die Hinwendung zu seinen Forschungen selbst mit Verwunderung, denn was er »zu tun versucht habe, wurde von den Linksintellektuellen in Frankreich mit großem Schweigen aufgenommen«. Schließlich haben »erst etwa 1968 (…) all diese Fragen ihre politische Bedeutung erlangt, und das mit einer Schärfe, die ich nicht vermutet hatte«.
Versprechen des Widerstands
Der antiautoritäre Impuls, der Foucaults Denken so reizvoll für die Intellektuellen auf den Barrikaden des Mai ’68 machte, droht jedoch in einen bloßen Voluntarismus zu kippen. Das große Versprechen von Foucault gegen den Marxismus war: Euer Widerstand ist jederzeit möglich, es braucht nicht erst eine Revolution der Verhältnisse – im Gegenteil, das wäre sogar eine falsche Vorstellung von Macht. Denn diese war bei Foucault zu einer produktiven statt repressiven Kraft geworden, etwas, das die Subjekte und ihre Handlungsmöglichkeiten hervorbringt. Die Allgegenwart der Macht war nicht die totale Herrschaft, sondern die Möglichkeit zu Veränderung im Hier und Jetzt: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand«, heißt es prägnant in »Der Wille zum Wissen«.
Die Foucault’sche Machtanalytik wollte jene Formationen verstehen, die sich im positiven Wissen als Wahrheit herausbilden, die »die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt«, wie Foucault in »Das Subjekt und die Macht« darlegt. Mit der politischen Wendung in »Überwachen und Strafen« wurde es dann möglich, sich als Subjekt eine eigene Geschichte zu machen, denn wir könnten »neue Formen der Subjektivität zustande bringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrelang auferlegt hat, zurückweisen«.
Gesellschaftliche Wirklichkeit und Entwicklung vor dem Hintergrund einer radikalen Unbestimmtheit zu denken, die Widerstand und Veränderung jederzeit möglich mache, wurde – unter anderem – mit Foucault zu einem der neuen Grundsätze kritischer Sozialwissenschaften, ob nun in konstruktivistischer, poststrukturalistischer oder postmoderner Fassung. Das verlockende Widerstandspotenzial ist aber nur möglich vor dem Hintergrund der Abkehr von jedem gesellschaftstheoretischen Begriff von Determination und damit strenggenommen von der materialistischen Analyse an sich.
In den vergangenen 50 Jahren gab es um die Theorie daher viele Auseinandersetzungen, Kritik an Foucault, wie aber auch zahlreiche Versuche, seine Theorie mit Marx zu synthetisieren. Könne man nicht beides haben: einen starken Begriff kapitalistischer Vergesellschaftung und eine Subjekttheorie, die das Potenzial zu einer »Mikropolitik« des Widerstands ermögliche? Schwerer als jede solcher Theorieentscheidungen im Einzelnen wiegt als Erbe von »Überwachen und Strafen« jedoch, dass der Linken und ihrer Theorie seitdem gesellschaftliche Erkenntnis tatsächlich wie eine Entscheidung vorkommt, die man nach politischen Vorteilen treffen könne. Diesen Zustand selbst gesellschaftlich aufklären kann man mit der Foucault’schen Machtanalytik nicht.
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