Suzetrigin: Neuartiges Schmerzmittel von US-Behörde zugelassen

Das Bostoner Unternehmen Vertex Pharmaceuticals hat ein neues Medikament entwickelt

Die neuen Schmerztabletten
Die neuen Schmerztabletten

Natriumkanäle wird man im Atlas vergeblich suchen. Bei diesen »Gewässern« handelt es sich um Eiweiße, die zum Beispiel in der Zellmembran sitzen. Sie ermöglichen es Ionen verschiedenster Art, Zellhüllen zu durchqueren. Unter anderem ist das wichtig für die Signalübertragung – auch im Fall von Schmerzen.

Verschiedene Ionenkanäle werden schon seit Jahren von Schmerzexperten untersucht. Aber erst jetzt konnte ein Unternehmen für ein auf dieser Basis entwickeltes Schmerzmittel die Zulassung zumindest durch die US-Arzneimittelbehörde FDA erreichen. Der in Boston ansässige Hersteller Vertex Pharmaceuticals bringt mit Suzetrigin eine neue Substanzklasse von Analgetika auf den Markt – erstmals seit etwa 25 Jahren.

Besonders herausfordernd war diese Entwicklung auch deshalb, weil es neun verschiedene Subtypen von Natriumkanälen gibt, die sich in Bezug auf Struktur und Funktion kaum unterscheiden. Weil sie so viele Übereinstimmungen zeigen, galt es bislang als schwierig, nur einen dieser Kanäle zu blockieren. Es gibt bereits einige Medikamente, die eine größere Gruppe von Natriumkanälen allgemein blockieren. Darunter ist Lidocain, das von Zahnärzten als lokales Betäubungsmittel verwendet wird. Wegen vieler weiterer Wirkungen jenseits der erwünschten Schmerzstillung sind die unspezifischen Medikamente zu diesem Zweck allein nicht geeignet.

Suzetrigin, das unter dem Handelsnamen Journavx auf den Markt kommt, soll ähnlich wirksam sein wie Opioide, aber ohne die bekannten Nebenwirkungen wie etwa Benommenheit, Angstzustände, Euphorie und vor allem, ohne abhängig zu machen. Letzteres wird deshalb vermieden, weil die neue Substanz an den Zellen des peripheren Nervensystems andockt, die Schmerzsignale ins Gehirn weiterleiten, nicht aber im Gehirn selbst.

Der Wirkstoff könnte eine Entwicklung einleiten, mit der in den USA die Opioidkrise zu stoppen wäre und den Patienten trotzdem geholfen würde. Denn etwa ab Mitte der 90er Jahre wurden in den Vereinigten Staaten unter anderem auf Betreiben des Herstellers Purdue Pharma Opioide massenhaft und zu hoch dosiert verschrieben. Inzwischen erhalten dort jährlich 40 Millionen Menschen diese Schmerzmittel, und 85 000 Nutzer kommen nicht mehr davon los. Sie sind abhängig geworden, und ein Teil von ihnen wechselt mangels ärztlichem Rezept zu illegalen Opioiden wie Fentanyl. Dabei kommt es jedoch schnell zu Überdosierungen und in der Folge zu vielen Todesfällen.

Suzetrigin könnte eine Entwicklung einleiten, mit der in den USA die Opioidkrise zu stoppen wäre und den Patienten trotzdem geholfen würde.

Eine massenhafte Verwendung von Suzetrigin dürfte es aber vorerst aus mehreren Gründen nicht geben. Das hat einerseits mit den Studien zu tun, die der Zulassung zugrunde liegen. An diesen nahmen insgesamt nur 1000 Patienten teil, und das Mittel wurde dabei nur unter eng gefassten Rahmenbedingungen angewendet. Dennoch erfolgte die Zulassung Ende Januar, wobei die Entwicklung nicht-opioider Schmerzmittel von der FDA seit einigen Jahren gefördert wird.

Probanden erhielten das neue Präparat als Schmerzstiller nach Operationen – die eine Gruppe nach einer Bauchstraffung, die andere nach der Korrektur eines Zehengelenks. Die Kontrollgruppen erhielten jeweils ein gängiges Opioid oder ein Placebo. Im Ergebnis zeigte sich der Kanalblocker nach der erstgenannten OP ähnlich gut wie ein Opioid, nach der Zehen-OP indes etwas weniger wirksam – die Schmerzen konnten nicht völlig ausgeschaltet werden.

Einschränkungen für den Einsatz gibt es zudem bisher für Leberpatienten, für Schwangere und Stillende wird es gar nicht empfohlen. Unerwünschte Wechselwirkungen sind unter anderem mit bestimmten Antibiotika und Antipilzmitteln festgestellt worden. Auch schränkt das Präparat die Wirkung einiger hormoneller Verhütungsmittel ein: bis zu vier Wochen nach der Suzetrigin-Verschreibung ist die Verhütung nicht mehr sicher.

Aus Sicht von Ärzten mangelt es darüber hinaus bislang an Empfehlungen für die richtige Dosis und die Eignung bei unterschiedlich starken Schmerzen. Vertex Pharmaceuticals arbeitet an weiteren Studien beziehungsweise plant diese, unter anderem für bestimmte Nervenschmerzen, die infolge eines Diabetes auftreten können. Offen ist auch, ob das Mittel oder mögliche Nachfolger für chronische Schmerzen geeignet sein könnten, die Mechanismen im Nervensystem schon verändert haben.

Eine letzte, eher nicht medizinische Einschränkung für eine schnelle Durchsetzung am Markt könnte der hohe Preis sein. Für die Tablette mit 50 Milligramm Wirkstoff sind 15 Dollar aufgerufen, sie soll bei mäßigen bis schweren akuten Schmerzen Erwachsener zweimal täglich eingenommen werden. In Europa und Deutschland sollte das erst einmal nicht beunruhigen: Ein Zulassungsantrag wurde hier von Vertex Pharmaceuticals noch nicht gestellt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -