»Ich identifiziere mich als Sozialarbeiterin, nicht Abgeordnete«

Cansın Köktürk sitzt ab Ende März für Die Linke im Bundestag und hat sich fest vorgenommen: Sie will für die Menschen, nicht um Posten kämpfen

Sozialarbeiterin, Autorin, Ruhrpöttlerin und jetzt auch im Bundestag: Linke-Politikerin Cansın Köktürk.
Sozialarbeiterin, Autorin, Ruhrpöttlerin und jetzt auch im Bundestag: Linke-Politikerin Cansın Köktürk.

Seit Montag sind Sie Bundestagsabgeordnete. Wie fühlt sich das an?

Ich identifiziere mich nicht als Abgeordnete, sondern als Sozialarbeiterin, die jetzt hier im Bundestag ist, um bewusst Dinge zu verändern. Ich will auch nicht bis ans Ende meines Lebens Berufspolitikerin sein, das könnte ich nicht. Mein Leben will ich damit verbringen, zu verstehen, was Menschen umtreibt und was sie bewegt, und auch persönlich zu wachsen. So viele Menschen definieren sich über diese Rollen und Titel, aber ich habe eine ganz andere, innere Karriereleiter, die ich erklimmen will.

Worum es eigentlich geht, ist, dass man inneren Frieden findet und irgendwann, wenn man von dieser Welt geht, sagen kann: Ich war ein guter Mensch, ich war mit mir im Einklang, habe mich selbst kennengelernt und ich war solidarisch für andere Menschen da – und nicht: Ich war die und die Ministerin. Ich habe in meinen jungen Jahren prägende Erfahrungen gemacht und früh verstanden, was das Wesentliche im Leben für mich ist. Aber versteh mich nicht falsch, ich habe schon den Anspruch an mich, spürbare Veränderungen voranzutreiben. Dafür werde ich mit Herzblut kämpfen.

Wann genau wurde Ihnen klar, dass Sie in den Bundestag kommen werden?

Wir haben seit Winter in Bochum mit sehr vielen aktiven Menschen an 10 000 Haustüren geklingelt und Gespräche geführt und da wurde mir irgendwann klar: Das wird gut, wir schaffen die fünf Prozent und werden auf die drei Direktmandate gar nicht angewiesen sein. Zum einen, weil ich gemerkt habe, dass dieser direkte Kontakt mit den Menschen wirklich der richtige Weg ist, und weil so viele Leute sich uns anschließen wollten. Am Anfang waren wir beim Aktiventreffen zu fünft, dann kamen irgendwann 50, 60 Leute. Dazu kamen natürlich andere Faktoren – dass wir die einzig klare Stimme gegen rechts und für die sozialen Themen sind. Dass ich, Cansın, wirklich in den Bundestag einziehen werde, das habe ich aber erst am Wahlabend verstanden. Es ist immer noch sehr surreal, jetzt hier zu sein.

Cansın Köktürk

Cansin Köktürk ist 1993 in Hattingen im Ruhrgebiet in Deutschland geboren. Nach einem Studium im Sozialwesen an der Universität Duisburg-Essen wurde sie Sozialarbeiterin. Im Februar 2025 wurde sie als Zweitplatzierte der NRW-Landesliste für die Linkspartei in den Bundestag gewählt.

Von der Sozialarbeiterin zur Bundestagsabgeordneten – das ist, wie Sie ja zeigen, nicht unmöglich aber doch eher ungewöhnlich. Wie begann dieser Weg?

Ich wusste direkt nach dem Abi, dass ich einen Job machen will, bei dem es nicht nur ums Geldverdienen dreht, sondern wo ich nah dran bin an den Menschen und ihren Geschichten. In den zehn Jahren danach habe ich in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet: in der Kita-Sozialarbeit, in der ambulanten und stationären Familien- und Jugendhilfe, an Schulen, und dann habe ich lange eine Notunterkunft für psychisch kranke und geflüchtete Menschen geleitet. Die Situation dort war furchtbar – wenig Platz für viele Menschen, keine Privatsphäre, keine Perspektive, viele sind verständlicherweise durchgedreht. Ich konnte zwar viele Menschen unterstützen, aber langfristig etwas ändern konnte ich als Sozialarbeiterin natürlich nicht.

Und dann sind Sie erst einmal zu den Grünen gegangen?

Ich habe damals Verantwortliche gesucht, wollte verstehen, wer schuld an dieser Situation ist, und mich dann entschieden, politisch aktiv zu werden. Tatsächlich war ich schon in meiner Jugend Mitglied bei der Linken, weil ich schon immer irgendwie das System hinterfragt habe und ändern wollte. Ich fand aber die Politik von Wagenknecht nicht gut. Irgendwann bin ich ausgetreten und sah vor den Bundestagswahlen 2021 in den Grünen ein authentisches Auftreten.

Damals dachte man, es sei authentisch …

Ja. Irgendwann habe ich gemerkt, dass sich niemand in Bochum so richtig darum kümmerte, wie es in den Notunterkünften aussieht. Dafür kamen immer viele Ausreden. Auch die Willkommenskultur gegenüber neuen Mitgliedern fand ich fragwürdig. Ich hatte aber an der Idee der alten Grünen noch eine Weile festgehalten – Petra Kelly, Friedensbewegung und so weiter. Ich habe geglaubt, dass es diese Werte in der Partei noch geben muss.

Und dann wollten die Grünen in die Ampel-Regierung gehen. Ich hatte mich als einzige Person als Delegierte im Länderrat der Grünen offen gegen das Sondierungspapier ausgesprochen, da es sehr danach schien, als hätte damals die FDP die Wahl gewonnen. Und als dann die Zustimmung für die Räumung von Lützerath kam und danach zur Europäischen Asylreform, war es für mich vorbei. Menschenrechte sind für mich nicht verhandelbar. Da darf man keine Ausnahmen machen. Ich habe mich mit meinen Werten in dieser Partei nicht mehr vertreten gefühlt.

Dann war klar, der Wagenknecht-Flügel verlässt Die Linke, also war die Partei wieder eine Option für Sie?

Eigentlich hatte ich mit Parteienpolitik abgeschlossen, weil ich enttäuscht über die Realitätsferne war. Ich habe Die Linke immer sehr genau beobachtet. Die Linke war eigentlich am Ende, das hat mich schon sehr mitgenommen. Aber dann haben sich kluge und tolle Menschen aus verschiedenen Bewegungen zusammengetan und gesagt, sie glauben an die Partei – lasst sie uns verändern. Und ich war ein Teil dieser Menschen, die daran gearbeitet haben. 

Damals wirkte diese Zuversicht fast verrückt ...

Dieser Gedanke, dass man die Hoffnung nicht verlieren darf, prägt mich schon sehr lange. Die Zuversicht zu verlieren lähmt das Handeln, und meine größte Sorge im Leben ist, irgendwann zu verbittern. Und außerdem war für mich auch klar: Wir dürfen das Feld nicht dem Faschismus überlassen. Es geht um unsere Zukunft, um unsere Demokratie, um die sozialen Fragen und wir haben keine Zeit nachzulassen. 2023 bin ich dann wieder in die Linkspartei eingetreten und habe mich 2025 auf die Landesliste NRW wählen lassen.

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In welchen Bereichen möchten Sie sich als Abgeordnete konkret einsetzen?

Vor allem möchte ich in meiner Zeit als Abgeordnete Druck für Umverteilung machen, um soziale Fragen zu lösen. In meinen Haustürgesprächen ist an allen Stellen immer wieder klar geworden, dass investiert werden muss – in Schulen, Kitas und so weiter. Wir hätten das Geld dafür, wenn wir Vermögen ordentlich besteuern und die Schuldenbremse reformieren. Das Geld ist da, es ist ungerecht verteilt. Ich bringe eine große Expertise durch meine Berufserfahrung für den Bereich Soziales, aber auch frauenpolitische Themen sowie die Bildungspolitik mit. Wie die Ausschüsse und Zuständigkeiten innerhalb der neuen Fraktion verteilt werden, das wird sich aber erst in den nächsten Wochen entscheiden.

Ich habe schon beobachtet, wie junge Abgeordnete von diesem Kosmos Bundestag mit all seinen Machtlogiken eingenommen wurden und auch durch diese Rolle abgehoben sind. Haben Sie Angst, dass Ihnen das passieren könnte?

Es gibt diesen Spruch in der Türkei, den mein Opa immer gesagt hat: Je höher man kommt, desto kleiner, also bescheidender, muss man sich verhalten. Ich wurde nicht hier reingewählt, weil es um mich geht, sondern weil die Menschen sich für Die Linke entschieden haben und für linke Themensetzungen. Sie haben mir das Vertrauen geschenkt, dass ich die Interessen vertreten kann und das ist der Auftrag. Ich weiß, dass ich mich immer daran erinnern werde, wo ich herkomme – aus der sozialen Arbeit, von der Straße und aus dem Ruhrpott. Und ich weiß, dass ich Menschen um mich herum habe, die mich erden und mich sehr gut kennen und mir sagen können: »Hey, Cansın, das geht jetzt aber gar nicht, da hast du einen Fehler gemacht.« Und das nimmt mir jegliche Angst.

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