- Politik
- Russland
Zersplitterte Putin-Gegner
Die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann über die russische Opposition
Frau Schulmann, die selbst ernannte russische Opposition hat am 1. März erneut in Berlin demonstriert. Sie selbst halten den Begriff »Opposition« für die aktuellen russischen Verhältnisse nicht anwendbar. Was sind Ihre Einwände?
Der Begriff »Opposition« setzt das Vorhandensein individueller oder kollektiver Akteure, die um die politische Macht, meist durch Wahlen, aber nicht ausschließlich, konkurrieren, voraus. Im heutigen Russland gibt es jedoch keinen politischen Wettbewerb. Es gibt keine rechtliche Möglichkeit und damit auch kein rationales Ziel für die Entstehung oppositioneller Strukturen. Man kann den Begriff »Opposition« auch nicht auf die Menschen außerhalb Russlands anwenden. Sie können nicht die Funktion politischer Opposition erfüllen, weil sie nicht am Kampf um die Macht in Russland teilnehmen können. Aber sie können auf andere Weise aktiv sein. Wir sprechen lieber von verschiedenen Communitys wie der Anti-Kriegs-Community, der Menschenrechts-Community und so weiter.
Zu Beginn Ihrer Karriere galten Ihre Sympathien dem marktradikalen Flügel des russischen Liberalismus. In den vergangenen Jahren sagen Sie jedoch häufiger, dass für Russland die skandinavischen Länder sich gut als Vorbild eignen. Wie kam es zu dieser Linksverschiebung?
Ich würde es nicht als eine Revision meiner Positionen bezeichnen, sondern als Prozess. Als Putin an die Macht kam, war ich 20 und niemand hat sich für meine Meinung interessiert. Meine öffentliche Tätigkeit begann nach der Promotion 2013, als ich selber zu lehren begann und die Zeitung »Wedomosti« mich um eine Kolumne anfragte. Was die Evolution meiner Ansichten betrifft, die mit zunehmendem Alter stattfindet, besonders mit einem Menschen, der sich mit Sozialwissenschaften befasst und dadurch immer mehr über das Wesen des Sozialen erfährt – so muss ich sagen, ja, am Anfang neigte ich, wie viele Bildungsbürger in Russland, eher nach rechts. Das unterscheidet uns von unseren westlichen »Klassenbrüdern«. Das hat schon zu Sowjetzeiten zu gegenseitigem Missverstehen zwischen Intellektuellen im Westen und Osten geführt. Wegen unserer historischen Erfahrung schreckte uns alles, was auch nur rhetorisch an links erinnerte, ab und rief posttraumatische Reaktionen hervor. Heute denke ich, dass unsere nördlichen Nachbarn mit ihrem Sozialstaat für uns ein viel passenderes Vorbild wären, als der wilde Kapitalismus im viktorianischen Geist, den man heute sogar in der USA selten antrifft.
Jekaterina Schulmann (46) ist eine russische Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie war Dozentin an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation sowie der Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Seit April 2022 lebt und arbeitet Schulmann in Berlin.
Russlands politisches Exil trifft sich mit den Vertretern der EU. Allerdings nur die liberale Fraktion. Warum sind die linken Kräfte dabei kaum präsent?
Mir fallen nicht so viele Vertreter der Linken im Ausland ein, die nicht an verschiedenen Dialogprozessen teilnehmen. Wen meinen Sie? Michail Lobanow? Grigori Judin? Sie haben, so wie der Rest von uns, einen Termin nach dem anderen. Viele von denen, die Sie ansprechen, versuchen in Russland zu überleben und meiden dementsprechend Kontakte im Ausland.
Im Lager der Putin-Unterstützer finden sich Menschen mit geradezu diametral entgegengesetzten Ansichten, es gibt liberale, linke, rechte Putinisten – haben Sie eine Erklärung für dieses Phänomen?
Eine richtige Beobachtung, doch die Putin-Unterstützung, die Sie meinen, ist vor allem Loyalismus, den das autoritäre Regime formt. Es basiert auf der Anerkennung der Vorgesetzten als Vorgesetzte, der aktuellen Staatsführung als unhinterfragbare Realität, und ist eher konformes Verhalten, als Identifikation mit bestimmten Überzeugungen. Menschen mit verschiedenen Überzeugungen werden nicht von der Person Putin angezogen, sondern von seinem Führungsstatus. Es ist ein Einschätzen, welche Boni man von der Führung bekommen kann und mit welchen Risiken man konfrontiert wäre, gerät man mit ihr in Konflikt. Das aktuelle politische »Ökosystem« ist das Ergebnis administrativer Konstruktion und Polizeiterror. Bei freien Wahlen würde sich ein sehr anderes Bild ergeben. Ich glaube nicht, dass viele der derzeitigen Parlamentsparteien in einem freien, wettbewerbsorientierten politischen Umfeld überlebt hätten.
Sie erwähnen häufig, dass linke Parteien und Gewerkschaften gute Perspektiven haben, sollte es in Russland wieder eine politische Konkurrenz geben. Worauf basiert diese Einschätzung?
Ausgehend von den zugänglichen soziologischen Daten muss ich sagen, dass in einem Land wie Russland, in dem niedrig bezahlte Lohnabhängige die Mehrheit bilden, linke Ideen gefragt sein müssten. Hätten wir freie Wahlen, würde das deutlicher werden. Wir haben Studien zu Protopartei-Gruppen, zu sogenannten Werte-Wolken. Und die Ideen, die am ehesten mit der Sozialdemokratie assoziiert werden können – persönliche Freiheit und sozialstaatliche Unterstützung – haben viel Zustimmung. Ich möchte klarstellen: Umfragen zeigen keine klare Mehrheit für irgendeine Proto-Partei. Die russische Gesellschaft ist weder konsolidiert noch polarisiert. Es wären viele politische Kräfte im frei gewählten Parlament vertreten. Und was die Gewerkschaften betrifft: in Russland ist das Vertrauensniveau sehr niedrig, sowohl gegenüber Institutionen als auch gegenseitig. Das ist unser Fluch.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Lässt sich aktuell überhaupt ermitteln, wie viele Menschen eine linke, liberale oder nationalistische Partei wählen würden?
Das sind zwar Spekulationen wie bei einem Wettschwimmen in einem Becken ohne Wasser. Aber je nach Studien würden zwischen 20 und 25 Prozent eine gemäßigt linke Kraft wählen, um die 20 Prozent eine liberale. Nationalisten können mit bis zu zwölf Prozent rechnen. Radikale Kommunisten und Sowjetnostalgiker könnten auf fünf Prozent hoffen.
Das liberale Lager wird durch den Konflikt zwischen Alexej Nawalnys Antikorruptionsstiftung (FBK) und Michail Chodorkowski sowie Maxim Katz in Atem gehalten. Was sind die Ursachen dieser Auseinandersetzung?
Am Ende sind wir dort angekommen, wo wir das Interview begonnen haben. Sowohl FBK als auch Chodorkowski und Katz wirken im Ausland, sie können nicht um die Macht in Russland kämpfen. Ihr Streit führt nicht zur Spaltung der Organisationen, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den russischen Exilparteien der Fall war. Dennoch können sie alle verlieren, weil ihre Anhänger der Skandale überdrüssig werden. Aktuell sieht es so aus, als erleide FBK Rückschläge. Dabei entsprachen Nawalnys Strukturen mit Regionalbüros und einer relativ aktiven Basis neben den Kommunisten noch am ehesten denen einer echten politischen Partei.
Mit seiner Kritik an der Jelzin-Zeit hat Nawalny zuletzt nach links geschielt, wäre das eine Grundlage für eine mögliche Kooperation zum Beispiel mit der Kommunistischen Partei?
Lokal gab es schon seit den Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalters 2018 eine Zusammenarbeit zwischen Nawalnys Leuten und den Kommunisten. In vielen Regionen gab es sogar personelle Überschneidungen, da junge Nawalny-Aktivisten die registrierte Partei als ein »Beförderungsmittel« zur Wahl in die Parlamente aller Ebenen betrachteten. In der KPRF gab es auch Kräfte, die zu mehr Kooperation bereit waren. Nawalnys Taktik des »intelligenten Wählens« führte aber zu Druck der Präsidialverwaltung auf die KPRF. Der FSB seinerseits zerschlug dann die Nawalny-Stäbe.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.