Ukraine: Wenn das Geld nicht reicht

In der Ukraine sind viele Menschen auf Nebenverdienste und Hilfe zum Überleben angewiesen

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 5 Min.
Viele ukrainische Binnenflüchtlinge sind auf Lebensmittelspenden angewiesen
Viele ukrainische Binnenflüchtlinge sind auf Lebensmittelspenden angewiesen

Um die 600 Euro verdient man in der Ukraine, wenn man im mittleren Dienst des Staates oder beim Paketdienst »Nova Post« arbeitet. An der Supermarktkasse sind es 400 bis 500 Euro. Die meisten Rentner erhalten um die 100 Euro. Viel Geld ist das nicht. Und so sind 70 Prozent der Bevölkerung froh, wenn das Geld bis zum Monatsende reicht.

Will man wissen, ob jemand zur Oberschicht gehört, reicht die Frage nach dem Preis von Äpfeln, Gurken oder Tomaten. Wer darauf keine Antwort hat, gehört zu den oberen 30 Prozent. Zur Einordnung: Bei der Supermarktkette Silpo kosten sechs rote Äpfel 1 Euro, ein Kilo Tomaten 4 Euro und ein Kilo Kartoffeln zwischen 90 Cent und 2 Euro.

Nebenjob bringt mehr Geld als offizielle Arbeit

Die Not im Portemonnaie macht die Menschen erfinderisch. Es gibt kaum jemanden in der Ukraine, der nicht noch irgendein Geschäft nebenher laufen hat, das oftmals einträglicher ist als die offizielle Arbeit.

Olena, die in Wirklichkeit anders heißt, geht es gut. Dreimal in der Woche fährt sie zur Arbeit. Und nie kommt sie in einen Stau. Denn ihr Arbeitsweg führt sie aus dem Zentrum einer Großstadt in eine kleinere Ortschaft. Dort sind Büros günstiger.

Das Wort »Büro« hat eine neue Bedeutung bekommen

Olenas Arbeitsplatz ist bescheiden eingerichtet. An einem Besuch potenzieller Kunden ist man nicht interessiert. Der Online-Kontakt reicht. Und auf dem Heimweg hat sie freie Fahrt, der Berufsverkehr staut sich auf der Gegenfahrbahn.

Die 25-Jährige, deren Kindheitstraum es war, Opernsängerin zu werden, hat ein Pfund, mit dem sie inzwischen zu wuchern weiß: ihre angenehme, beruhigend wirkende Stimme. Die braucht sie für ihre Arbeit im »Office«. Ein normales Büro ist das »Office« nicht. Der Begriff hat in der Ukraine einen Bedeutungswandel erfahren und bezeichnet mittlerweile umgangssprachlich ein illegales Callcenter.

Der Job: Menschen in Russland das Bankkonto plündern

Mit ihrer Arbeit im »Office« bringt Olena jeden Monat 2000 Euro nach Hause, in bar und steuerfrei. »Meistens hängen wir zu viert im Office am Telefon. Und fast immer ist auch ein Psychologe dabei, der in die Gespräche reinhört und uns erklärt, welche Fehler wir machen. Insbesondere die Augenblicke, bevor ein Gesprächspartner auflegt, werden genau analysiert.« Ihre Aufgabe: einfältigen Bürgern unter einem falschen Vorwand Zugang zu ihren Bankkonten zu entlocken.

Nein, sie rufe natürlich keine Menschen in der Ukraine an, stellt sie klar. Denn da würde ihr und ihrem Arbeitgeber der Inlandsgeheimdienst früher oder später auf die Schliche kommen. Ihr »Office« habe Telefone mit russischen Kennungen und so rufe man Bankkunden in Russland an. Schnell kommt die Frage auf: »Ja, aber wie wollen Sie denn in der Ukraine an russische Bankkonten rankommen und dann dieses Geld von Russland in die Ukraine überweisen?« »Ach«, meint sie, »traditionelle Überweisungen von Russland in die Ukraine sind natürlich nicht möglich. Das Schlagwort heißt ›Kryptowährung‹«. Außerdem habe man noch ein paar Mitarbeiter in Russland. Und auch auf die Frage, wie man denn in der Ukraine an russische Bankdaten gelange, hat sie eine einfache Antwort: »In Russland kann man vieles kaufen.« Noch genauer möchte sie ihr Wissen nicht ausbreiten.

Zweiklassengesellschaft beim Thema Wohnen

»Sehen Sie sich mal in Odessa um«, sagt ein lokaler Künstler zu seinem Gast. »So viele leer stehende Wohnungen. Und mit einer leer stehenden Wohnung kann man viel machen.« Zum Beispiel könne man darin Cannabis anbauen, schwärmt er. Man müsse natürlich etwas davon verstehen. Das wäre eine todsichere Sache. Der Bedarf an Marihuana sei jedenfalls groß in Odessa, vor allem in der Künstlerszene.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Als die Sowjetunion Ende 1991 aufgelöst wurde, bekamen die Menschen ihre Mietwohnungen geschenkt. Es war eine der größten Privatisierungen der jüngsten Zeit in den Staaten der früheren Sowjetunion. Doch was sich zunächst als sehr wunderbare Sache anhörte – das ganze Volk zu Wohnungsbesitzern zu machen – entpuppte sich bald als große Ungerechtigkeit. Wer in Moskau in Kreml-Nähe oder in Kiew auf dem Maidan wohnte, war mit einem Schlag Besitzer einer Wohnung, die sich für eine Million Dollar verkaufen ließ. Wer dagegen auf dem Dorf wohnte, oder in einer Ortschaft, die im jetzigen Krieg zerstört wurde, der hat nichts.

Binnenflüchtlinge leben in beengten Verhältnissen

In der Folge gibt es heute in ukrainischen Städten – wie auch in anderen Ex-Sowjetrepubliken, zwei Klassen: die Einheimischen und die Zugereisten. Viele Binnenflüchtlinge aus dem Donbass leben heute in Odessa in sehr beengten und ärmlichen Verhältnissen. Einheimische hingegen brauchen nicht zu mieten. Und wer einen Partner heiratet, der auch eine Wohnung einbringt, hat auf einmal sogar eine zweite Wohnung, die sich vermieten lässt.

Und gleichzeitig stehen vor den Suppenküchen und Kleiderkammern der Kirchen die Menschen Schlange, und die Klinik St. Rafael, die kürzlich im Zentrum der Schwarzmeerstadt ihre Türen geöffnet hat, von der katholischen Kirche gefördert wird und Binnenflüchtlinge kostenlos behandelt, kann sich der Patientinnen kaum erwehren. Hier wird nur behandelt, wer nachweisen kann, dass er oder sie Binnenflüchtling ist.

Kirchen spenden Lebensmittel an Bedürftige

Am Sonntag sind die Kirchen voll. Das liegt auch daran, dass viele Kirchen regelmäßigen Besucher*innen, die belegen können, dass sie arm sind, nach dem Gottesdienst eine Tragtasche voller Lebensmittel schenken.

Aktuell sieht der ukrainische Staat wenig Handlungsbedarf für einen Kampf gegen die Armut. Es ist ja Krieg. Doch er scheint zu übersehen, dass unzufriedene besitzlose Bürger wenig Grund sehen, ihrem Staat gegenüber loyal zu sein.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.