- Politik
- Geburtsbetreuung
Auf neuen Wegen ins Leben
Seit etwa eineinhalb Jahren erblicken in Thüringens erstem Hebammenkreißsaal kleine Menschen das Licht der Welt
Der Kreißsaal der Ilm-Kreis-Kliniken im thüringischen Arnstadt ist an diesem Nachmittag in rotes Licht getaucht. Eine Wand, Vorhänge, selbst das Tuch, an dem sich werdende Mütter festhalten können, sind in dieser Farbe gehalten. Zwar behaupten einige, dass Rot eine beruhigende Wirkung auf Neugeborene hat, doch die Farbe ist nicht das, was diesen Raum auszeichnet. Es gibt auch kein Ausstattungsmerkmal, das ihn besonders macht. Vielmehr ist es das, was nicht da ist: In Thüringens erstem Hebammenkreißsaal kommen Babys ohne die Hilfe eines Arztes zur Welt.
»Das ist ein Betreuungskonzept«, sagt Anika Buntrock, die als leitende Hebamme der Klinik arbeitet. Eins, fügt sie bald hinzu, das nur unter bestimmten Bedingungen, für bestimmte Schwangere funktionieren könne. In einem Gesundheitssystem wie dem deutschen, in dem aus strukturellen Gründen für viele medizinische Leistungen das nötige Geld fehlt, muss man gleich an dieser Stelle noch diesen Satz von ihr zitieren: »Das ist keine Sparmaßnahme.«
Nach dem, was Buntrock sagt und nach dem, was auch der Deutsche Hebammen Verband zu diesem Konzept schreibt, sind Hebammenkreißsäle – die manchmal auch hebammengeleitete Kreißsäle genannt werden – eine ziemlich facettenreiche Sache. Im Wesentlichen zeichnen sie sich aber durch zwei Dinge aus. Erstens bringen Frauen dort Kinder zur Welt, während sie eins-zu-eins von einer Hebamme betreut werden. Also, eine Schwangere, eine Hebamme. Während der Geburt ist dagegen kein Arzt dabei – solange es keine unvorhergesehenen Komplikationen oder gar Notfälle gibt. Zweitens: Verläuft alles gut, ist die Geburt »interventionsarm«, wie Buntrock das ausdrückt. Auf medizinische Hilfsmittel wird also verzichtet.
Beides wiederum bedeutet, dass eine Geburt in einem Hebammenkreißsaal nicht für jede Schwangere geeignet ist – und dass selbst bei den Schwangeren, für die eine solche Geburtsart geeignet scheint, die Hebammen immer auf kürzestem Weg ärztliche Hilfe holen können, sollten doch plötzlich medizinische Eingriffe nötig sein. In dieser Klinik sind es ungefähr sieben Meter vom Kreißsaal mit der roten Wand und den roten Vorhängen bis zu einem Zimmer, in dem auch kompliziertere medizinische Geburtseingriffe vorgenommen werden können.
Nach Angaben der Klinik haben sich seit der Eröffnung des Hebammenkreißsaals in Arnstadt im Juni 2023 etwa 140 Frauen für eine Geburt dort interessiert und an einem entsprechenden Erstgespräch dazu teilgenommen. Etwa zwei Drittel von ihnen seien für eine derart betreute Geburt in Frage gekommen, macht also etwas über 90 Frauen. Von ihnen hat dann etwa die Hälfte wirklich ausschließlich durch eine Hebamme betreut entbunden. Bei der anderen Hälfte von ihnen waren dann zum Beispiel doch – was nur unter ärztlicher Aufsicht geschehen darf – Schmerzmittel, Medikamente zur Geburtseinleitung oder ein Kaiserschnitt nötig geworden.
Gar nicht zugelassen für eine solche Geburtsbetreuung werden Frauen, für die oder für deren Kinder aufgrund von Vorerkrankungen oder ähnlichem während der Geburt ein erhöhtes Risiko besteht. Frauen mit Blutgerinnungsstörungen oder Bluthochdruck oder einer Schwangerschaftsdiabetes etwa. Oder Frauen, die schon einmal einen Kaiserschnitt hatten.
»Wenn ich mich bewusst dafür entscheide, Wehen auszuhalten, dann ist das einfach anders.«
Anika Buntrock Hebamme und Leiterin des Kreißsaals der Ilm-Kreis-Kliniken
Schon, dass Frauen für eine Geburt im Hebammenkreißsaal zugelassen oder eben nicht zugelassen werden, zeigt, dass dieses Betreuungskonzept keins für die Anhängerinnen jener esoterischen Geburtskonzepte ist, deren Jüngerinnen in den sozialen Netzwerken ziemlich präsent sind. In den einschlägigen Profilbeschreibungen etwa bei Instagram fabulieren solche Frauen beziehungsweise Influencerinnen von »Alleingeburt« oder einer »selbstbestimmten Schwangerschaft fernab vom Gesundheitssystem« oder von »Urkräften«.
In der Klinik in Arnstadt dagegen entscheiden Ärzte wie Monja König anhand einer medizinischen Anamnese darüber, ob eine Frau für eine Geburt im Hebammenkreißsaal in Frage kommt. Die Oberärztin an der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe ist auch eine der Gynäkologinnen, an die sich Hebammen wie Buntrock wenden, wenn eine eigentlich als »interventionsarm« geplante Geburt dann doch anders verlaufen muss als erwartet.
Wahrscheinlich führt schon diese medizinische Vorauswahl dazu, dass nach den bisherigen Erfahrungen von Buntrock und König zwar Frauen, die eine »bewusste Geburt« erleben wollen, sich für das Konzept des Hebammenkreißsaals interessieren. Nur selten aber jene, die eine völlig verquere Vorstellung vom Kinderkriegen oder der Wirkung von Medikamenten hätten. Gerade junge und gesunde Erstgebärende aus verschiedensten gesellschaftlichen Milieus würden sich für die Methode interessieren. »Ganz gemischt«, sagt König über die Frauen, mit denen sie wegen dieses Betreuungskonzepts Kontakt hat.
Was diese Menschen unter einer »bewussten Geburt« – eine wiederum im Internet massiv überstrapazierte Formulierung – verstehen, beschreibt Buntrock so: Für die Frauen gehe es in der Regel nicht darum, den oft schmerzhaften und langwierigen Geburtsprozess irgendwie möglichst schnell hinter sich zu bringen. Sie würden die Geburt aktiv erleben wollen, weil sie sie als abschließenden Teil ihrer Schwangerschaft verstünden. »Wenn ich mich bewusst dafür entscheide, Wehen auszuhalten, dann ist das einfach anders«, sagt Buntrock.
Nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Schwangeren allerdings hat die Einrichtung dieses Hebammenkreißsaals Dinge verändert. Auch für das Miteinander in der Klinik und für den Blick auf Geburten allgemein hat die Etablierung dieses zusätzlichen Angebots etwas angestoßen.
Zwar beteuern sowohl Buntrock als auch König, dass das Miteinander von Ärzten und Hebammen in dem Haus schon in der Vergangenheit sehr gut gewesen sei. Ohne dieses Miteinander sei es immerhin überhaupt nicht möglich gewesen, ein solches Konzept gemeinsam über mehrere Jahre hinweg zu erarbeiten und dann schließlich auch einzuführen, sagen beide. Doch dieses Miteinander habe sich seit der Einführung des Hebammenkreißsaals noch weiter verbessert, sagen Buntrock und König. Davon würden auch all die Schwangeren profitieren, die von vorneherein ärztlich betreut entbinden. »Es gibt jetzt hier ein fast nicht mehr vorhandenes Hierarchiegefälle«, sagt König. »Das muss man aber auch erst mal zulassen, von beiden Seiten, mancher arbeitet ja eigentlich gerne auf Anweisung.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Buntrock sagt, das Bewusstsein dafür, wie wichtig eine gute Geburtshilfe sei, habe in den vergangenen Monaten innerhalb der Klinik zugenommen. Viel »achtsamer« werde heute mit Geburten umgegangen, es werde mehr als früher gemeinsam darüber beraten, was für eine bestimmte Frau gut und was weniger gut sei.
Thüringenweit gibt es inzwischen mindestens zwei weitere Kliniken, an denen Hebammenkreißsäle eingerichtet worden sind: an der Universitätsklinik in Jena und am Helios-Klinikum in Erfurt. Bundesweit sollen es inzwischen etwa 60 Krankenhäuser sein, die nach einem derartigen Konzept arbeiten. Innerhalb von nur etwa zwei Jahren hat sich die Zahl der von Hebammen betreuten Kreißsäle laut Buntrock verdoppelt. »Das zeigt, wie überfällig die Einführung solcher Kreißsäle in Deutschland war«, meint die Hebamme. Für eine zu lange Zeit habe in Deutschland das Bewusstsein dafür ein bisschen gefehlt, dass Geburten eigentlich eine ganz natürliche Sache seien, auch wenn erst die moderne medizinische Begleitung von Geburten die Säuglingssterblichkeit massiv reduziert hat. »Dieses Bewusstsein kehrt jetzt langsam wieder zurück.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.