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Wohnen mit Bürgergeld in Berlin: Miete oder Essen?
Bis zu 50 Prozent der SGB-II-Mieten überschreiten die Obergrenzen – neue AV-Wohnen lässt auf sich warten
1500 Berliner Haushalte sind vor die Wahl gestellt: wohnen oder essen? Denn das Jobcenter zahlte ihnen im vergangenen Jahr nicht die volle Miete, obwohl sie Anspruch auf Sozialleistungen hatten. Das geht aus Angaben der Senatsverwaltung für Soziales hervor. Entsprechende Daten hatte der Grüne-Abgeordnete Taylan Kurt abgefragt. Wollen diese Haushalte nicht aus der Wohnung fliegen, müssen sie auf andere Ausgaben verzichten.
Je nach Haushaltsgröße hält der Senat 449 Euro (eine Person), 543,40 Euro (zwei Personen) 668,80 Euro (drei Personen) und 752,40 Euro (vier Personen) für angemessen. Höher sollte die Bruttokaltmiete (ohne Heizung und Warmwasser) etwa von Bürgergeldempfänger*innen oder Asylbewerber*innen nicht liegen. Mietkosten, die diesen Richtwert übersteigen, müssen die Haushalte selber aufbringen. Das regeln in Berlin die Ausführungsvorschriften Wohnen (AV Wohnen). Allerdings gibt es eine Reihe von Szenarien, in denen das Land Berlin auch höhere Mietkosten für gerechtfertigt hält. Berlin bezahlt als Kommune den Wohnkostenanteil des Bürgergelds. Der Regelsatz wird vom Bund übernommen.
Berlinweit überstieg 2024 die Miete von 84 000 leistungsberechtigten Haushalten die Angemessenheitsgrenzen. Bei insgesamt 209 000 leistungsberechtigten Haushalten entspricht das 40 Prozent.
Ein Blick auf die einzelnen Bezirke ergibt ein differenziertes Bild. So lag in Charlottenburg-Wilmersdorf und Steglitz-Zehlendorf die Miete von 50 und 48 Prozent der Haushalte über dem Richtwert, in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg waren es 25 und 26 Prozent aller Haushalte. Die Bezirke mit den meisten Haushalten, die die Obergrenzen überstiegen, sind Neukölln (10 800) und Mitte (11 900).
Den Angaben des Senats zufolge wurden allerdings knapp 98 Prozent der Mieten, die die Richtwerte überstiegen, komplett von den Jobcentern bezahlt, etwa wenn Alter oder die alleinige Kindererziehung Härtefallzuschläge begründeten. Aber auch, wenn sich angesichts der Umzugskosten ein Umzug als nicht wirtschaftlich erwies oder wenn Leistungsberechtigte nach dem Allgemeinen Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ASOG) untergebracht waren, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Auch wenn aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes nachweislich keine günstigere Wohnung angemietet werden konnte, sollte von der Einhaltung der Richtwerte abgesehen werden. Zudem sollte im ersten Jahr des Leistungsbezugs die volle Miete übernommen werden, ohne Überprüfung auf Angemessenheit.
Dennoch wurden im vergangenen Jahr 2700 Haushalte von den Jobcentern aufgefordert, die Miete zu senken. Das teilte die Sozialverwaltung auf Anfrage mit. Denn erst, nachdem die Jobcenter über die unangemessene Miethöhe informiert haben und auf mögliche Maßnahmen, wie den Umzug in eine günstigere Wohnung oder Untervermietung, hingewiesen haben und sechs Monate verstrichen sind, darf das Jobcenter die Miete auf die Höhe der Richtwerte festsetzen.
»Das Land Berlin macht sich in Fällen von über die AV-Wohnen angehäuften Mietschulden an Räumungsklagen mitschuldig.«
Taylan Kurt (Grüne) sozialpolitischer Sprecher
Wie viele derjenigen, deren Miete auf die Höhe der Richtwerte gekappt werden, sich am Ende fürs Essen entscheiden und Mietschulden machen, sei nicht klar, sagt der Grünen-Politiker Kurt zu »nd«. Laut Kurt sind Mietschulden mit Abstand der häufigste Grund für Räumungsklagen durch die Vermieter. »Das Land Berlin macht sich in Fällen von über die AV-Wohnen angehäuften Mietschulden an den Räumungsklagen mitschuldig«, sagt Kurt.
Laut Sozialgesetzbuch, sollen die Richtwerte für angemessene Mieten »die Verhältnisse des einfachen Standards auf dem örtlichen Wohnungsmarkt abbilden«. Hierfür hat die Sozialverwaltung die Berechnung der Richtwerte an den alle zwei Jahre erhobenen Berliner Mietspiegel angelehnt. Die aktuelle AV-Wohnen rekurriert noch auf Erhebungen von 2022. Mittlerweile ist die Veröffentlichung des Mietspiegels 2024, der die Berliner Ist-Mieten von September 2023 zugrunde legt, fast ein Jahr her. Noch im zweiten Quartal will die Sozialverwaltung die AV-Wohnen dahingehend aktualisieren, teilt sie »nd« mit. Laut dem Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, dessen Mitgliedsunternehmen etwa 45 Prozent aller Berliner Wohnungen halten, sind zwischen Juni 2023 und Juni 2024 die Bestandsmieten um 3,95 Prozent gestiegen, die Neuvertragsmieten um 7 Prozent und die Neubaumieten um 15,6 Prozent.
»Bis eine neue AV-Wohnen gilt, brauchen wir ein Wohnkostensenkungsmoratorium«, sagt der Sozialpolitiker Kurt, »und dann eine zeitlich automatisierte Anpassung der Verordnung an die Geltungsdauer des Mietspiegels.« Die Berliner Mietergemeinschaft weist indes auch auf die Grenzen dieses Instruments hin. Pressesprecher Rainer Balcerowiak, der gelegentlich auch für »nd« berichtet, spricht von einer »nicht abschließenden Lösung«. Denn am Ende würden die Vermieter mit öffentlichem Geld finanziert, wenn die Ämter bei dauerhaft steigenden Mieten sämtliche Kosten übernehmen. »Eine angepasste AV-Wohnen ändert nichts an dem Grundproblem der viel zu hohen Mieten«, erklärt Balcerowiak. Es brauche genügend bezahlbare Wohnungen und Regelungen, damit Menschen mit Bedarf auf diese zugreifen können.
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Taylan Kurt verweist auch auf die Bundespolitik: »Ich befürchte, dass die angepasste AV-Wohnen aufgrund bundespolitischer Entwicklungen nur eine begrenzte Haltbarkeit haben könnte«, sagt er. »Wenn sich die Wahlkampfforderungen der CDU bewahrheiten und die Mietpauschalen kommen, dann hat das Land Berlin bald keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr und die AV-Wohnen verliert ihre Geltung.« Im Koalitionsvertrag, den für den Bereich Soziales Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe mitverhandelt hat, ist vereinbart, »eine Kommission zur Sozialstaatsreform« einzusetzen, die unter anderem »die Möglichkeit der Pauschalierung von Leistungen« prüfen soll. Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte im vergangenen Jahr eine vom Bund festgelegte Wohnkostenpauschale ins Spiel gebracht. Eine Angemessenheitsprüfung auf kommunaler Ebene würde der Idee zufolge entfallen. Mit entsprechenden Ausführungen machten auch die CDU und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz Wahlkampf.
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