Kann Kapitalismus redlich sein?
Wolfgang Engler beklagt die »Lüge als Prinzip«
Der Untertitel von Wolfgang Englers jüngster Arbeit, »Aufrichtigkeit im Kapitalismus«, scheint die Zielrichtung seines Buches »Lüge als Prinzip« anzugeben: Aufrichtigkeit, so unterstellt das Spannungsverhältnis zwischen Titel und Untertitel, könne und solle im Kapitalismus eine bedeutende Rolle spielen. Der Umschlagtext des Buches, sicher nicht ohne Wollen und Wissen des Autors formuliert, verkündet eine »brillante Analyse«, die in einem programmatischen Satz gipfelt: »Nur wenn der Kapitalismus an sein sozialmoralisches Erbe anknüpft, bleibt er politisch mehrheitsfähig.«
Der Hoffnungen nach Ausbruch der globalen Krise waren viele: Jetzt aber solle man doch zum guten alten rheinischen Kapitalismus zurückkehren – hätten sie das nicht draufschreiben können, die Lehman und andere Brüder, dass in ihren Derivaten nur heiße Luft enthalten war? Mehr Ehrlichkeit wird angemahnt. Es sei die Gier dieser oder jener Banker, die zur allgemeinen Finanzlüge geführt habe, und wenn man jetzt zurückkehre zu alten Kaufmannstugenden, dann sei die Welt gerettet. Zu diesen Wünschenden und Mahnern gehört nun auch Engler: »Der stumme Zwang des Wettbewerbs«, glaubt der Soziologe entdeckt zu haben, »realisiert die Forderung der Aufrichtigkeit in der Sphäre der Wirtschaft«.
Wie könnte wohl die Kinderarbeit aus der Zeit des Manchester-Kapitalismus zu einem »sozialmoralischen« Erbe gerinnen? Wo mag die Aufrichtigkeit in den Produktversprechen der Werbung liegen, die uns das weißeste Persil aller Zeiten verspricht? Schmeckt der teure, nur durch hartnäckiges Marketing veredelte Strom von E.ON besser als der preiswerte aus den letzten kommunalen Stadtwerken? Soweit zur Lüge und zur Konkurrenz im »alten« Kapitalismus. Erst mit den neuen Unternehmern, die Engler »ortlos, bindungslos« nennt, habe die »Lust am Raten, Wetten, Spekulieren« begonnen. Aber der Ort hieß Stuttgart, von dem aus Daimler seine wilde Spekulation auf eine »Welt AG« begonnen hatte, auch die Porsche-Hasardeure oder die Schaeffler-Conti-Übernehmer sind durchaus heimisch. Ihre Bindung allerdings ist die an den Profit, da sind sie den vorgeblich neuen Kapitalisten zwillingsgleich.
»Plane mit! Entscheide mit! Regiere mit! – Diese ideologische Leerformel aus staatssozialistischen Tagen gewann in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft des Westens einige Plausibilität«, schreibt Engler. Als ob die Kollegen in den Call Centern vom Unsinn, den sie den jeweiligen Kunden erzählen, überzeugt wären, als ob sie nicht die pure Angst vor der Entlassung in die tägliche Lüge treibt. Hier, in der Existenzunsicherheit liegt das wesentliche Bindemittel des Arbeitnehmers an »seinen« Betrieb. Aber um die ziemliche Ehrlichkeit des guten, alten Kapitalismus aus dem Nichts herauszumeißeln, gönnt der Autor sich und seinem Leser einen Ausflug in den vergangenen Sozialismus: Der habe die organisierte Verantwortungslosigkeit hergestellt, dort habe das Primat der Politik zu einer ungesunden Mischung von Despotie und Anarchie geführt. Selbst wenn man diesen sehr kurzen Lehrgang zur Geschichte des Sozialismus unterschreiben würde: Was sagt uns das zur Lüge oder Aufrichtigkeit im Kapitalismus? Nichts.
Es ist eine seltsam dekonzentrierte Beweisführung, die Engler präsentiert. Dazu gehört auch eine Bildergalerie im Buch, in der neben Walter Ulbricht auch Andrea Ypsilanti abgebildet ist: Seht her, sagen uns die Fotos der beiden, auch mit Gesten lässt sich lügen, das hätten wir natürlich vor Englers Buch nie und nimmer gewusst. Der Leser wird noch Exkurse zur höfischen Konversation finden, eine durchaus gebildete »Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft« und den Umschlag »von Aufrichtigkeit in Authentizität«, jene »Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber«, die den Autor zur Kassiererin im Supermarkt führt, die natürlich nicht authentisch, das meint selbstverwirklichend, arbeitet, und deshalb »die Entkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit« braucht. So viele Umwege, um zum eigentlichen Engler zu kommen, der schon länger die Befreiung des Menschen von der Arbeit durch das bedingungslose Grundeinkommen propagiert.
Wann immer der nach Engler »stumme Zwang« die Kapitalisten zu einer gewissen Redlichkeit, zur Anerkennung sozialer Verträge gebracht hat, wurde das vom lautstarken Protest seiner Antipoden bewirkt: Gewerkschaften haben Tarife erkämpft, Konsumenten-Vereinigungen redliche Produkte, Umwelt-Initiativen verringerten Gefährdungen. Und wenn der Autor auf die »frühen Zeugen der Aufrichtigkeitskultur« trifft und einen »protestantischen Akzent« zu hören vermeint, lauscht er doch nur dem Kirchenlatein Calvins, das im wirtschaftlichen Erfolg ein Zeichen für den Gnadenstand erblickte. Aber diese Wertung des Profits macht ihn weder moralischer noch aufrichtiger.
Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus. Aufbau-Verlag. 214 S. m. Abb., geb., 19,95 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.