Die gesamte Welt muss her
Theatertreffen Berlin: Peter Handkes »Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten«, Schauspiel Graz
Im Tagebuch notiert Peter Handke am 12. Juli 1991 Überlegungen zu seinem wortlosen Schauspiel »Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten«: »Das Übergehen des am Tag, in der Wirklichkeit, Gesehenen, in das Innere Auge, den Tagtraum, die Erinnerung, die Vorstellung, die Phantasie, und wieder zurück in die Realität ...« Tagtraum, Erinnerung, Fantasie – die Inszenierung des einzigartig schwebenden, vom Autor auf einem freien Platz im hellen Licht angesiedelten Theaterstücks am Schauspielhaus Graz will es kräftiger, zupackender, dramatisch erregter.
Die Geschichten der Menschen, die über den Platz gehen, sich begegnen, wieder auseinanderlaufen, dabei Geschäften und unterschiedlichsten Verrichtungen nachgehen, Beziehungen anbahnen und abbrechen, im Buchstäblichen einen »Weg« für sich zu finden suchen, haben bei Handke eine tief nachdenkliche und zugleich schwerelose Leichtigkeit. Weil kein Wort fällt, muss, darf der Zuschauer sich die Schicksale der über den Platz eilenden, flüchtig dort verweilenden Frauen und Männer selbst erfinden und zusammenbauen.
In Graz macht sich der ungarische Regisseur Viktor Bodó (mit Pascal Raich auch Gestalter der Bühne) zum selbstbewussten Erfinder von Menschen-Geschichten auf einem nun mit beweglichen Wohn-Containern bebauten, unbestimmten, ganz selten nur hellen Platz. Er gibt den Leuten, die hier zu Hause sind, die arbeiten, vorbeikommen, weggehen, Namen und Berufe – im Programmheft. Was da steht und also frei erfunden ist über den Museumswärter und die Allgemeinmedizinerin, über den Installateur und die Bürokauffrau, über die Opernsängerin, die Kellnerin und all die anderen wird auf der Bühne und in Videoeinspielungen tapfer illustriert. Die gesamte Welt soll her, eine Summe aller möglichen Biografien, mit gewittrigem Wetter und bedrohlichem Flugzeuggedröhn, mit bebender Erde und Stromausfällen. Ein Verkehrsunfall treibt die Leute auf dem Platz immer wieder zusammen und auseinander, im Café werden Abenteuer angestiftet, beraten, ausgewertet. Es geht um Tod und Leben, um Liebe und Hass, um Eifersucht und Missgunst, Unglück und Mord. Mit seiner aus ungarischen (Szputnyik Shipping Company) und deutschen Darstellern gefügten Truppe, die mit bewundernswertem Einsatz spielt, tanzt, singt, baut Bodó ein völlig neues Stück aus vielen kleinen Stücken zusammen.
Was Technik dabei hergeben kann, wird mit trumpfendem Selbstbewusstsein eingesetzt. Zauberische Lichtstimmungen lösen völliges Dunkel ab, der Raum ist in verschobene, verschachtelte Perspektiven aufgesplittert und vervielfacht, das reale Spiel auf der Bühne mit den magisch wandernden Containern geht in raffinierte Verfremdung und Überlagerung auf der Leinwand über. Man kennt das von Frank Castorfs großen Inszenierungen an der Volksbühne.
Vor allem aber – der ungarische Regisseur setzt Musik ein, schafft akustische Gliederungen, schenkt seiner Opernsängerin schmetternde Arien, macht ein Klaviertrio zum Souverän des Geschehens. Es wird auch unartikuliert geflüstert und gesprochen – die Stummheit ist aufgehoben. Und leider auch der Zauber des Schauspiels.
Welche Helle, welche Anmut hatte Luc Bondys Inszenierung 1994 an der Berliner Schaubühne! Bodó wollte brausendes, raues, verstörendes Leben auf die Bühne bringen, mit souverän erschaffenen Figuren aus der heutigen normal bösen Wirklichkeit. Wie er sein Ensemble dabei im Griff hat, wie die fantastischen, ironischen Steigerungen alltäglichen Geschehens bis in entfesselte Tanzszenen hinein gemeistert werden, verdient durchaus Respekt. Unter der Voraussetzung allerdings, dass man bereit ist, der »Bearbeitung« von Handkes Stück völlige Souveränität zuzugestehen.
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