Nur zwei weitere Morde …

Hans Neuenfels inszenierte in München Johann Simon Mayrs »Medea in Corinto«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Er hat über 60 Opern geschrieben, aber heute kennt ihn, jenseits eines eingeschworenen Kreises von Anhängern, kaum noch jemand. Immer mal versucht sich ein Opernhaus an einem Werk von Johann Simon Mayr (1763–1845). Dabei er durchaus Anerkennung, vor allem für seine Fertigkeit, wortreiche Monologe arios zu umspielen. Dass der in Bayern geborene, in Italien zu Ansehen gekommene Mayr ein Lehrer Donizettis war, also in der italienischen Operngeschichte bemerkenswerte Spätfolgen verantwortet, lässt sich nachvollziehen, wenn man hört, wie er seine Protagonisten fordert und ausstattet. Das gilt auch für seine »Medea«.

Die Bayerische Staatsoper hat sich jetzt Giovanni Simone Mayrs (das Programmheft, das selbst wie eine aufgestöberte Ausgrabung aussieht, verwendet die italienische Form des Vornamens) »Medea in Corinto« angenommen und dabei weder musikalischen noch szenischen Aufwand gescheut. Ivor Bolton am Pult des Bayerischen Staatsorchesters kitzelte aus Mayrs selbst bei ihrer Uraufführung 1813 schon etwas überholt wirkender Musik alles heraus, was darin an Originalität (etwa bei der Begleitung einzelner Stimmen durch Soloinstrumente) und an Opulenz (beim oratorischen Aufrauschen der Chöre) enthalten ist.

Bei seinem Versuch, die Dramatik dieses exemplarischen Stoffes in den Ausbrüchen und Wendungen der Titelheldin zu fokussieren, hat er zudem mit Nadja Michael eine Sängerdarstellerin zur Verfügung, der die gestalterische Überzeugungskraft allemal wichtiger ist als das makellose Gelingen aller Spitzentöne. Da die Stimmenfreaks (vor allem in Berlin) mit ihr immer besonders unnachsichtig sind, ist ihr der Szenenapplaus in München nicht nur zu gönnen, er hat sie wohl zu der beeindruckendsten Gesamtleistung des Ensembles animiert. Jedenfalls überzeugte sie deutlich mehr als der etwas blasse Ramón Vargas als Jason.

Nicht-Mayr-Fans trieb ins Haus am Max-Josefs-Platz vor allem die Neugier darauf, was dem Regie-Altmeister Hans Neuenfels in der aparten Kombination mit einer Raumerfinderin wie Anna Viebrock einfallen würde, um der etwas selbstgenügsam und selbstverloren vor sich hinrauschenden Musik (die manchmal nicht nur von Ferne an Mozart oder Beethoven erinnert, sondern die Sehnsucht danach weckt) die exemplarische Tragödie abzugewinnen.

Anna Viebrocks Bühne ist diesmal keine Variation ihrer beklemmend genialischen Kleinbürgerhöllen, sondern eine Art offene Palastfassade. Gemeinsam mit den Kostümen von Elina Schnizler setzt sich die Optik dieses Korinth vor allem über die Abgrenzung von Epochen hinweg. Die Damen der Oberschicht tragen stilisierte Eleganz, die Herren einen Uniformmix aus allen Zeiten und Regionen. Der alte König Creonte (markant: Alastair Miles), der wie eine Molière-Figur mit Rigolettobuckel herumtigert und schlechte Laune verbreitet; der galauniformierte Jason; der von dessen neuer Flamme Creusa (mit schlanker Präsenz: Elena Tsallagova) versetzte Egeo (der eindringlich schmachtende Tenor Alek Shrader) und seine smarten Begleiter scheinen sich eher im Operettenfundus bedient zu haben, während diverse Bodyguards, Eingreiftruppen und auch die Heldin selbst auf die optische Sparsamkeit tiefschürfenden Regietheaters festgelegt sind.

Neuenfels setzt bei der im Titel vorgegebenen Verortung Medeas »in Corinto« an. Er entlarvt mit seinem souverän eingesetzten Instrumentarium von Zusatzpersonal und aufgehelltem, auf der Szene verdeutlichtem, psychologischem Subtext vor allem die vermeintlich zivilisierte Gesellschaft von Korinth. Er ist also Christa Wolfs Lesart gar nicht so unähnlich und deutlich mehr am gesellschaftlichen Kontext interessiert als Marellie kürzlich bei der Grillparzer folgenden »Medea«-Uraufführung von Aribert Reimann in Wien.

Doch vor dem Palast von Korinth gehören der öffentlich zelebrierte Ritualmord oder das Abknallen bei diversen Putschversuchen ebenso zum gesellschaftlichen Konsens wie das Dulden von Folterspielchen mit Gefangenen oder die Zwangspaarungen der ausdrücklich als Neger gekennzeichneten dienenden Unterschicht. Das ist als enthüllender Blick hinter die Fassade einer geschlossenen Gesellschaft eindrucksvoll, nimmt aber dem Kindermord am Ende dann doch seine exemplarische Dimension. Hier sind es halt zwei Morde mehr. Alle beklagen den blutigen Tag, und die mit einem Häuschen verkleideten Pferde auf dem Palastdach entschwinden Richtung Schnürboden, weil die Welt nun aus den Fugen ist.

Der Beifall war einhellig. Bis Hans Neuenfels kam. Der kassierte seine Buhs und entschwand Richtung Bayreuth, wo sein mit Spannung erwarteter »Lohengrin« die diesjährigen Wagner-Festspiele eröffnen wird. Da wird dann mit Sicherheit auch die Musik etwas mehr im Gedächtnis bleiben.

Wieder am 16., 20. und 29. Juni

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