Libertas' Kapelle
Liebenberg – ein Ausflug in die Geschichte
Liebenberg gilt als Ort spröder Schönheit. Umgeben von sandigen Ackerschlägen, auf denen man sich tief bücken musste, wird es dominiert von einem Schloss, dessen Entstehen in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückgeht. Mehrfach erweitert und umgebaut, eingebettet in einen Park, den mehrere Jahrhunderte später der Gartenkünstler Lenné anlegte, beherbergt es heute ein Hotel. Es gehört der Deutschen Kreditbank, die darin Restaurants, Tagungsstätten und ihre Management School betreibt. Wer eincheckt, kann nicht nur fürstlich speisen, sondern wandern, Sport treiben, reiten oder zur Jagd gehen. Wer's mag ...
Die früheren Schlossherren gingen gern zur Jagd, ebenso ihre Gäste. Besser gesagt: Das gepflegte Jagdrevier zog hohe Gäste nach Liebenberg. Zum Beispiel den letzten deutschen Kaiser, Wilhelm II.
Gastgeber zu jener Zeit war Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld. Er hatte den preußischen Kronprinzen bereits am 19. April 1886 bei einer Jagd im ostpreußischen Prökelwitz kennengelernt. Eine Geschichte nahm ihren Lauf, die für Eulenburg tragisch endete und hier nur kurz erzählt werden soll: Eulenburg, ein gestandener Diplomat, war dem Prinzen und späteren Kaiser in schwärmender Freundschaft zugetan. Man traf sich zur Jagd und im Liebenberger Kreis, der als »Tafelrunde« bekannt wurde, so etwas wie ein deutscher Gral(1). Eulenburg genoss es wohl, Wilhelm II. ein Zentrum zu geben, dessen Mittelpunkt er selbst bildete. Doch mit den Jahren nahm der Männerbund immer groteskere Züge an, Eulenburg ging innerlich auf Distanz, die Monarchie stellte er freilich nicht in Frage. Das Verhängnis brach 1906 herein, als der Publizist Maximilian Harden gegen den Liebenberger Kreis anschrieb und den größten Skandal der Kaiserzeit losbrach: Die Tafelrunde beeinflusse maßgeblich die deutsche Politik. Und er deutete an, dass Eulenburg homoerotische Beziehungen pflege. Ob dies zutraf oder nicht, liegt bis heute im Ungewissen. Gegen Eulenburg folgten Strafprozesse, der Haft entging er lediglich seiner schlechten Gesundheit wegen. Der Kaiser mied Liebenberg fortan, der »Freund« distanzierte sich.
Liebenberg, ein historischer Ort? Man sollte die Zuordnung nicht inflationieren. Schloss Cecilienhof verdient sie. Jenes Schloss, dass Wilhelm II. von 1914 bis 1917, während seine Soldaten verbluteten, kurz, bevor er abdanken musste, für seinen Sohn und dessen Gattin Cecilie errichten ließ. Jenes Schloss, in dem die Alliierten 1945 das Potsdamer Abkommen unterschrieben. Aber Liebenberg? Was wäre dort geschehen, das den Lauf der Geschichte verändert hätte?
Auch dass hier eine Libertas Haas-Heye, geboren 1913, einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte, rechtfertigt nicht, jenen märkischen Ort zum historischen Ort zu erhöhen. Und doch, hier eröffnet sich ein Weg zum Verständnis deutscher Geschichte, die vieler Umdeutungen unterlag und weiterhin unterliegen wird. Eine neue Sicht bietet die US-amerikanische Autorin Anne Nelson, die in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand ihr Buch »Die Rote Kapelle. Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe« vorstellte. Widerstand im Nazi-Deutschland? Anne Nelson: »Schließlich hatte man uns doch erzählt, dass die gesamte Bevölkerung über Nacht zum Nationalsozialismus konvertiert sei und die Deutschen zu einem Volk von Mördern geworden seien.« Sie beschäftigte, warum sich »andere Deutsche« unter Lebensgefahr widersetzten. Und warum ihnen beide deutsche Staaten im Kalten Krieg nicht gerecht wurden.
Libertas Haas-Heye, wie gesagt, weilte oft in Liebenberg. Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld war ihr Großvater, und sie, die in Schweizer Internaten ebenso zu Hause war wie in Pariser Luxushotels, vertrieb sich die Zeit hier mit Ausritten. Öfter dürfte sie dabei das idyllisch an der Großen Lanke gelegene Seehaus besucht haben, jenes zweite Liebenberger Schloss, das ein Onkel inzwischen erbauen ließ und das vom Wohlstand der Familie erzählte. Und wieder stellten sich hohe Gäste ein, so seit 1934 Hermann Göring. 1936, Göring war nach erfolgreicher Jagd bester Stimmung, soll Libertas mit ihm geflirtet und bei dieser Gelegenheit versucht haben, die Karriere ihres Freundes im Reichsluftfahrtministerium zu befördern. Dieser Freund war Harro Schulze-Boysen, von der ersten Stunde an ein entschiedener Gegner des Naziregimes. Sie heirateten in der Liebenberger Schlosskapelle. Das Hochzeitsessen bestand aus Königinsuppe, Mayonaise von Lankehechten, Damwildrücken nach Reiterart, Salat und Preiselbeeren, Spinat mit Libertas-Fleurons, zum Nachtisch reichte man »Fliegerbombe«, vermutlich eine Torte.
Ob Libertas Vetter Wend Graf zu Eulenburg an jenem Festschmaus teilnahm, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass er 1942, nachdem die Widerständler entdeckt worden waren, in ein Himmelfahrtskommando gezwungen wurde. Und dass er trotzdem noch 40 Jahre danach die Aktivitäten der Schulze-Boysens als für »unsere Kriegsführung« verhängnisvoll be- wertete(2). Eine Lesart, die sich in der Bundesrepublik lange hielt. Ebenso wie die von der Gestapo in Umlauf gesetzte Lesart, die »Rote Kapelle« (im Jargon von Funkabwehr und Gestapo ein Funkkontakt nach Moskau) sei eine von der Sowjetunion gesteuerte kommunistische Organisation gewesen. Letztere Sicht kultivierte auch die DDR; da sie deren Ideologie stützte. Heute sind sich Historiker weitgehend einig, dass es sich bei der »Roten Kapelle« um einen losen Zusammenschluss verschiedener Gruppen handelte, darunter die Harnack- und die Schulze-Boysen-Gruppe, die keineswegs von der KPD oder von Moskau geführt wurden, sondern Menschen verschiedenster Herkunft und Weltanschauung vereinte, darunter auch Kommunisten wie John Sieg oder Hans und Hilde Coppi. Und ja, einige wenige nutzten Kontakte zum sowjetischen Nachrichtendienst – so Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen –, um Informationen weiterzugeben. In der Rolle von Agenten sahen sie sich nicht. Sie erwarteten von der Sowjetunion Hilfe bei der Überwindung des Naziregimes.
Die Schulze-Boysens lebten und arbeiteten in Berlin. Libertas »wirkte inmitten einer normalen bürgerlichen Gesellschaft ein wenig wie ein bunter, exotischer Schmetterling«(3). Als Presseagentin bei Metro Goldwyn Meyer hatte sie einen Traumjob. Die verwöhnte, intelligente, lebenslustige junge Frau war zwar 1933 in Liebenberg der NSDAP beigetreten, jedoch zunächst eher unpolitisch. Das Paar unterhielt einen großen Bekanntenkreis. Während bei den Abendgesellschaften der Harnacks »hochgeistige Gespräche bei einer Tasse Tee geführt«(4) wurden, wurde bei den Schulze-Boysens ausgelassen gesungen und getanzt. Man traf Künstler, Wissenschaftler, Ministerialbeamte, Aristokraten, Offiziere. Und knüpfte mehr oder weniger vorsichtig Kontakte. Engste, weniger privilegierte Freunde luden die Schulze-Boysens zum Segeln auf dem Wannsee ein. Libertas spielte dann auf ihrer Ziehharmonika. Am Tage nach dem Überfall auf Polen intonierte sie bei einer Geburtstagsfeier die Marseillaise, und ihr Mann stimmte die polnische Nationalhymne an: »Noch ist Polen nicht verloren ...« Tollkühn!
Vieles deutet darauf hin, dass Libertas die Aktionen ihres Mannes vor allem deshalb unterstützte, weil sie ihn liebte. Schulze-Boysen war ein Frauenschwarm: gut aussehend, mit der Aura des Wagemuts. Hinzu kamen freilich Hellsichtigkeit und moralische Integrität. Für ihn gab es nur einen Weg: das NS-Regime zu bekämpfen. Die Gruppe um Schulze-Boysen verfasste illegale Schriften, verteilte Flugblätter, schützte jüdische Mitbürger, brachte aus Protest gegen die im Mai 1942 eröffnete Hetzausstellung »Das Sowjetparadies« Klebezettel an. Libertas, die im November 1941 eine Stelle als Referentin bei der Deutschen Kulturfilm-Zentrale angenommen hatte, »bezirzte Frontheimkehrer, ihr Fotos von den Gräueltaten zu überlassen, die sich irgendwo da draußen in Polen oder Russland abgespielt hatten und weiter abspielten«(5) und legte mit diesen Schnappschüssen von der Front ein geheimes Archiv an. Aber sie hatte Angst. Ihrem Freund Günther Weisenborn – die Schulze-Boysens führten eine offene Ehe – vertraute sie an, dass sie nicht mehr mitmachen wolle(6).
Harro Schulze-Boysen war es tatsächlich gelungen, dem sowjetischen Nachrichtendienst detaillierte Informationen über den unmittelbar bevorstehenden Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion zuzuspielen. Die Stalin bekanntlich ignorierte. Es bleibt tragisch, dass Deutsche in diesem Fall ihr Leben quasi umsonst riskierten. Ebenso tragisch, dass sie aufgrund einer Nachlässigkeit des sowjetischen Nachrichtendienstes aufflogen: Der hatte in einem Funkspruch, welcher später entschlüsselt werden konnte, die Namen und Adressen der führenden Köpfe der Widerstandsgruppen übermittelt. In der Folge wurden mehr als hundert Mitglieder der »Roten Kapelle« enttarnt und verhaftet, unter den ersten befanden sich Harro und Libertas Schulze-Boysen. Der Kommunist John Sieg erhängte sich in seiner Zelle, um keine Namen preiszugeben, Libertas Schulze-Boysen hoffte bis zuletzt, die Beziehungen ihrer Familie zu Göring würden sie retten. Bei einem Gestapoverhör vertraute sie sich einer Stenotypistin an. Der ehemalige Gefängnispfarrer Harald Poelchau erinnerte sich: »Sie war kein Mensch starken Willens und großer Konse- quenz.«(7) Dass sie einem Spitzel vertraut hatte, habe sie erst kurz vor ihrem Tod erfahren: »Die Breyer sei der erste Mensch gewesen, der sie im Gefängnis umarmt und freundlich mit ihr gesprochen habe.«(8)
Werfe jemand einen Stein! Über 50 Mitglieder der »Roten Kapelle« wurden hingerichtet. Libertas Schulze-Boysen starb am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee unter dem Fallbeil. Sie hatte gebeten, dass man sie in Liebenberg beisetzt. Ihr Leichnam wurde der Anatomie der Berliner Universität überstellt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Schloss und Gut Liebenberg im Zuge der Bodenreform enteignet. Bald kamen erneut hohe Gäste. Das Seehaus beanspruchte das Mitglied des Politbüros des SED-Zentralkomitees Alfred Neumann für sich. Wenn er seinem vergleichsweise bescheidenen Heim in der Wandlitzer Siedlung entkommen wollte, begab er sich auf seine Jagdresidenz. Neumann: Kommunist, Spanienkämpfer, inhaftiert im Zuchthaus Brandenburg-Görden, ins SS-Strafbataillon Dirlewanger gesteckt – musste die Datsche denn so feudal sein? Auch das Seehaus befindet sich nun als Hotel im Besitz der Deutschen Kreditbank. Am Tage unserer Besuchs tagt dort gerade die Helmholtz-Gesellschaft.
Im Hauptschloss mit seinen Anlagen hatte die DDR ein Schulgut eingerichtet. Man erzählt sich, die Kapelle, in der Libertas Haas-Heye und Harro Schulze-Boysen heirateten, sei nun als Bar genutzt worden. Einer der letzten Zeitzeugen, die bis zum Schluss auf dem Schulgut arbeiteten, der Elektromeister Werner Kandler widerspricht dem Gerücht energisch: Bis zum Umbau des Gebäudes 1975 sei die Kapelle ein Lager gewesen, danach ein Kulturraum namens »Blauer Salon«. Dort habe man die Jahresabschlüsse gefeiert, und sicher, dabei auch gespeist und getrunken. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, dies hätte den Schulze-Boysens gefallen. Ganz ausschließen kann ich es freilich auch nicht.
Seit 1992 ist der Raum Libertas Schulze-Boysen gewidmet und dient wieder kirchlichen Zwecken. Gottesdienste finden statt, demnächst sollen auch wieder Trauungen stattfinden. Eine kleine, ständige, von Hans Coppi erarbeitete Ausstellung erinnert an Libertas' Leben. Jeder kann eintreten und sich umsehen. Eine junge Frau, die im Hotel eine Ausbildung absoviert, eilt mit Tellern im Arm vorbei. »Was machen Sie denn hier?«, will sie wissen. Sie hat die Kapelle nie wahrgenommen und von Libertas Schulze-Boysen noch nie etwas gehört.
1 Christian Graf von Krockow: Fahrten durch die Mark Brandenburg. Wege in unsere Geschichte. Dtv
2,7,8 Wend Graf zu Eulenburg-Hertefeld: Ein Schloss in der Mark Brandenburg. Erinnerungen an Liebenberg. Engelhorn-Verlag
3,4,5,6 Anne Nelson: Die Rote Kapelle. Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe. Bertelsmann
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.