Es blinkt ein einsam Segel
Dimiter Gotscheff inszenierte an der Berliner Volksbühne »Die Chinesin« nach Godard
Drei Farben auf vertikal gespannten Stoffbahnen weisen bereits auf dem Theatervorplatz den Weg. Blau, gelb und rot leuchten die Eingangssäulen des Portals. Diese drei Farben spielen den ganzen knapp zweistündigen Abend eine Hauptrolle.
Jean-Luc Godard ist ein Meister der atmosphärischen Verwandlung. Seine Filme (»Die Verachtung« mit Brigitte Bardot, »Außer Atem« mit Jean-Paul Belmondo) gingen ästhetisch immer einen Weg: Intensität und Distanz. Ein Minimalist, der sich zunehmend auf das Elementare beschränkte: Farbe, Form und Geste. Godards Filme verbergen das Künstliche in der Kunst nicht – im Gegenteil, sie stellen es aus.
Den gleichen Weg geht gerade Dimiter Gotscheff, von dem wir zuletzt am Deutschen Theater Tschechows »Krankenstation Nr. 6« sahen. Was sind Worte in einer Kommunikationsgesellschaft? Lügen, die versuchen, uns etwas Wertvolles (Zeit!) abzuhandeln. Es stimmt ja nicht, dass wir redend unsere Probleme lösen – oft vermehren wir sie. Wer schweigen könnte, eine Weile wenigstens, der erführe Dinge, deren Existenz er unter medialem Dauerbeschuss schon fast vergessen hat!
Ausgerechnet »Die Chinesin« stellt in dieser Hinsicht einen Sündenfall Godards dar. Aber nur vorläufig, denn ein Unbehagen, das sich noch nicht genau erklären kann, prägt den Gestus. »Die Chinesin« dreht Godard 1967 und zeigt verschiedene Gruppen von marxistisch-leninistischen Jungintellektuellen an der Universität Nanterre. Die 68er Revolte liegt in der Luft, in aller ihrer Dramatik wie auch – unfreiwilligen – Komik. In diesen Gruppen taten Bürgerkinder nichts anderes, als über die Revolution, über Lenin und Mao zu diskutieren und zwischendurch die freie Liebe auszuprobieren. Godard – zu jener Zeit selber Kommunist – fühlte schon damals das Absurde der Situation: Da spielen die Privilegierten einer Gesellschaft Kommune und reden unablässig von Klassenkampf und der revolutionären Rolle des Proletariats. Zwischendurch trinken sie den teuren Rotwein ihrer Eltern und fühlen sich sehr avantgardistisch.
Diese Phase einer ungeheuren Theoriegläubigkeit war Resultat der Politisierung der späten 60er Jahre – ausgelöst durch den Vietnamkrieg der USA. Einerseits war dies das Land einer rebellischen Jugendkultur, andererseits ein Hort von Puritanern und imperialen Militärs. Godard warf mit »Die Chinesin« damals bereits einen genauen Blick auf das Weltveränderungspathos dieser amerikaskeptischen Gruppierungen, Prototypen einer Kommunikationsgesellschaft. Es zeigt den Solitär Godard, dass sich in dieses Porträt parodistische Züge mischten.
Gotscheff nimmt, zusammen mit dem Bühnenbildner Mark Lammert, in seiner Adaption von »Die Chinesin« diesen gebrochenen Gestus auf. Gotscheff/Lammert komponieren eine Symphonie aus Farbe und Tönen. In seinem artifiziellen Anspruch wird dieses Duo immer radikaler. Die Bühne: ein leerer Raum mit gelben Segeln, die teils wie Wäsche auf der Leine zum Trocknen, teils wie verwehte Transparente wirken, denen ihre Losungen erst noch eingeschrieben werden müssen, oder die sie bereits wieder verloren haben. Diese einsam blinkenden Segel sind in der Mitte beweglich gelagert und stehen so dicht zusammen wie kleine Wäldchen, in denen man sich verlaufen kann. Wenn jemand durch sie hindurchgeht, dann wirbeln sie wie gelbe Drehtüren herum, die jeden, der hindurchgeht, für immer verschlucken. Rot und Blau in wechselnden Stoffbahnen, mal aufgerollt oder vom Schnürboden wehend, mal zusammengeschoben wie Müll nach einer Demonstration.
»Die Chinesin« zeigt den intellektuellen Absprung in eine Tat, die sich für revolutionär hält. Und nun blicken Gotscheff/Lammert, an Heiner Müller geschult, aus großem zeitlichen Abstand auf diesen Augenblick der heroischen Illusion. Das Resümee fällt nüchtern aus, ohne falsche Sentimentalität.
Im Augenblick davor zeigt sich bereits die Frustration des Danach. »Du engagiert Dich für eine Sache, die überhaupt keine Substanz hat.« – »50 Jahre nach der Oktoberrevolution herrscht das US-amerikanische Kino.« – »Ich bin der andere. Ich bin der Diskurs der anderen.« Und immer so fort: Die völlige Verzweiflung angesichts der Erkenntnis. Hier teilt sie sich mit in einem Denkstück, das zugleich Meditation über das Dunkel des gelebten Augenblicks ist.
Wir begegnen uns, wenn wir über die Welt nachdenken, immer im falschen Format. Entweder ohne Begriffe oder ohne Erfahrung. Das Drama, das hier gespielt wird, ist, dass wir trotz aller Abstraktion, zu der wir fähig sind, Menschen des Alltags bleiben. Die Schauspieler, wie Monaden in ihre divergierenden Theorien der Befreiung gesperrt, tragen diesen schwierigen, vorsätzlich hermetischen Abend souverän: Sebastian Blomberg, Bernd Grawert, Max Hopp, Barbara Prpic, Anne Ratte-Polle und Marie-Lou Sellem.
Einer der schönsten Sätze aus »Die Chinesin«, zum wortreichen Höhenflug gestartet, dann in Skepsis und Schweigen zersplittert, lautet: »Dieser Morgen gehört nicht zu dem Tag, der gestern war.«
Nächste Vorstellung: 30.9.
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