Von Rom nach Mekka

In Berlin ist der 48. Deutsche Historikertag eröffnet worden

Eigenartig. Der gleiche Wochentag, der gleiche Ort. Und doch liegen zwei bewegte Dezennien zwischen beiden Ereignissen. Just da, wo an einem Dienstag im Februar 1989 der letzte Historiker-Kongress der DDR eröffnet worden war, begann gestern der 48. Deutsche Historikertag – im Berliner Congress Center am Alexanderplatz, das dazumal schlicht Kongresshalle hieß. Das Innere ist unverändert, strahlt den Charme der 70er Jahre aus. Holztäfelung, nüchternes Lampendekor, kubistische Deckenzierde.

»Über Grenzen« ist das Motto des bis zum 1. Oktober in Berlin, an der Humboldt-Universität, stattfindenden größten geisteswissenschaftlichen Kongresses in Europa. an dem 3000 Historiker aus dem In- und Ausland teilnehmen. Das Motto wurde passend zum 20 Jahrestages des Mauerfalls und der deutschen Vereinigung gewählt. Dem Eröffnungsakt wohnten US-Botschafter Philip D. Murphy sowie eine Abgesandte der American Historical Association bei.

Indes, der Schlüssel zur deutschen Einheit lag in Moskau, um ihn musste im Kreml gefeilscht werden. In keiner Rede tauchte der Name Gorbatschow oder Sowjetunion auf. Manche Grenzen bleiben unüberschritten. Auch von Historikern, die sich Wilhelm von Humboldt und Leopold Ranke verpflichtet fühlen. Beide hatten, so Werner Plumpe, Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, Weltgeschichte im Blick; sie wussten, Wissen kann nicht national begrenzt sein. Plumpe zitierte dazu auch Goethe: »Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft.« Sein Verband freue sich über das nunmehrige Ende nationaler Meistererzählungen und die in den letzten Jahren erfolgte internationale Öffnung der Geschichtswissenschaft, grenzenlos.

Manche Grenzen aber seien nötig, meinte Plumpe. »Tausendsassas« im akademischen Betrieb sind ihm suspekt. Und auch in der Hoschulpolitik wünschte er sich gewisse Grenzen. Der Staat dürfe nicht alles in private Hand geben, so etwa Studien- und Prüfungsordnungen. Es ginge auch nicht an, dass Aufsichtsräte und Vorstandsmitglieder als Drittmittelgeber die Forschungsprofile bestimmen, statt Rektorate und wissenschaftliche Räte.

Auch der Vorsitzende der Geschichtslehrer, Peter Lautzas, hatte Grund zur Klage: Der Geschichtsunterricht im föderalen Deutschland sei viel zu heterogen. »Nur ein mindestens zweistündiger Geschichtsunterricht macht Sinn«. Sorge bereitet dem Verband auch der Mangel an ausgebildeten Fachlehrern. Freundlich, aber bestimmt sagte Lautzas: »Frau Kanzlerin, beim Bildungsgipfel 2008 haben Sie die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen. Bisher hat dies aber leider nicht die erhoffte Neuausrichtung gebracht.«

Die Angesprochene ging darauf nicht ein. Sie neckte sich lieber mit dem Berliner Staatssekretär für Kultur. André Schmitz hatte ihr verschmitzt zugerufen: »Wenn Sie, Frau Kanzlerin, sich für das Humboldt-Forum einsetzen würden, wäre das die Krone unserer Zusammenarbeit!« Sie antwortete – wegen der Gäste – auf Englisch: »There is no free lunch in the world.« Soll heißen: Es gibt nichts umsonst. Sie ergänzte, das Unter den Linden geplante Humboldt-Forum läge auch ihr am Herzen.

Schmitz war erstaunlich launig eingestellt. »Ich begrüße Sie, meine Damen und Herren, im Rom des 20. Jahrhunderts.« Oho! Nein, das sei keine typische Berliner Übertreibung, in keiner anderen Stadt der Welt sei das »Jahrhundert der Extreme« so präsent wie in Berlin – mit »Nationalsozialismus«, Zweitem Weltkrieg, »SED-Diktatur«, Mauerbau und Mauerfall. Auch für die Ortung im 21. Jahrhundert fiel Schmitz ein historischer Vergleich ein: »Heute ist Berlin das Mekka für Künstler und Wissenschaftler.«

Die Kanzlerin dankte den Historikern für ihre vielen Bücher und Ausstellungen rund um das Doppeljubiläum im vergangenen Jahr: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall. Sie zitierte den 2006 verstorbenen bundesdeutschen Historiker Reinhart Koselleck: »Erstens war immer alles anders, als gesagt. Und zweitens ist immer alles anders, als gedacht.« Dem schloss sie eine Warnung vor sich angeblich ausbreitender DDR-Nostalgie und ungerechtfertigter Kritik am Einigungsprozess an. Sie ermunterte die Historiker, weitere Fakten zutage zu fördern, damit »das Gemurmel verstummt«. Ein Auftrag von oben, den seriöse Historiker mit professioneller Skepsis vernommen haben werden.

Beim abschließende Empfang hielt man vergeblich Ausschau nach vertrauten Gesichtern der originär-ostdeutschen Zunft. Erfreut gewahr wurde man der zahlreichen jungen Jünger Klios (schätzungsweise zwei Drittel der Teilnehmer am Eröffnungsakt). Der VIII. Historiker-Kongress der DDR war grauhäuptiger. Dessen Generalthema hatte übrigens »Krieg und Frieden« gelautet.

Zur Stippvisite ders ND-Redakeurin in die Vergangenheit gehörte – ganz unnostalgisch – neugieriges Betreten einer der Medienkabinen, die hufeisenförmig unter der Saaldecke angebracht sind und offenbar nicht mehr genutzt werden. »Raum Schriftpresse«, steht da. Und da sind die alten Stühle, der alte Tisch. Da hat man gesessen und Kurt Hagers Rede nach Wortlaut mitgelesen, um Manuskriptabweichungen zu vermerken. »Es gilt das gesprochene Wort!« Und das war recht trocken.

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