Weitergesagt, reingerissen

Samko Tále: Buch über den Friedhof

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Titelblatt: ein Glas mit Kefir, auf dem sich eine Fliege bewegt. »Denn Kefir ist sehr gesund. Und anderes.« So lauten die letzten beiden Sätze. Nun soll niemand vermuten, dass der Kefir vergiftet und das »Buch über den Friedhof« ein Krimi sei. Es handelt noch nicht mal vom Friedhof. Der Titel soll dem ewig besoffenen Gusto Rúhe zu verdanken gewesen sein, der Samko Tále weissagte: »Er wird ein Buch über den Friedhof schreiben.« Am Ende könnte einem eine vage Ahnung kommen, was Samko Tále mit Toten zu tun hat, aber es kann auch eine völlig irrsinnige Prophezeiung sein. Irrsinnig ist vieles im Buch.

Der Ich-Erzähler würde das weit von sich weisen. Man kann kaum zählen, wie oft er kundtut, nicht debil zu sein. Im Gegenteil, ein ganz besonders guter Schriftsteller sei er. Aber nur, weil an dem Wagen, mit dem er sonst Pappen transportiert, der Rückspiegel abgebrochen ist. Die Zeit der Reparatur will er nicht tatenlos verstreichen lassen, »denn ich bin arbeitsam, und die Leute achten mich, weil ich arbeitsam bin«. Auch diese Bekundung wird man im Roman x-Mal lesen ebenso wie das Selbstlob einer »gesunden Lebensführung«. Ein langer Monolog, der sich sozusagen in Kreisen um Samko Táles Erfahrungswelt bewegt – man meint die ganze Zeit (und daraus rührt die Spannung beim Lesen), dass sich Samko dabei etwas enthüllen wird, dass er zumindest dem »blinden Fleck« in seinem Bewusstsein etwas näher kommen müsste. Aber das geschieht langsam, langsam, und eher im Hirn des Lesers als in dem des Erzählers.

Ein Kunsttück fürwahr, das auch der Übersetzerin Ines Sebesta einiges abverlangte. Samko Tále, der den Autor des Buches abgeben soll, ist natürlich eine Kunstfigur. Der Roman stammt von Daniela Kapitánová, Theaterregisseurin und Literaturredakteurin beim Slowakischen Rundfunk, wie man aus dem Klappentext erfährt. Dass er in der Slowakei zum Bestseller wurde, liegt an der ungewöhnlichen Art und an der Schärfe, mit der die Kapitánová mit ihren Landsleuten ins Gericht geht.

Man darf annehmen, dass viele der Gestalten und Ereignisse im Buch einen realen Hintergrund haben, denn die Autorin stammt ebenso wie der »Autor« aus der südslowakischen Stadt Komárno, einem Zentrum der ungarischen Minderheit in der Slowakei. Entsprechend hat es Samko Tále dauernd mit den Ungarn. »Die Ungarn mag niemand auf der Welt, weil sie Ungarn sind. Die Slowaken mag jeder auf der Welt, weil sie Slowaken sind. Denn die Slowaken sind die besten auf der Welt. Und die slowakische Sprache ist die schönste auf der Welt. Das haben wir in der Schule gelernt, und im Fernseher haben sie das auch gesagt ...« Die Tschechen sind Samko Tále ebenso verdächtig. Noch mehr ärgern ihn die Zigeuner. »Warum es Zigeuner auf der Welt gibt«, versteht er nicht. »Sollen sie doch weggehen, zum Beispiel dahin, wo sie hergekommen sind, nach Zi-geunesien ...«

In besser gesetzten Worten hat Daniela Kapitánová solches sicher schon oft gehört, ebenso wie die Forderung nach Fleiß, Ordnung und Anstand. »Was die Leute sagen« wird auch in ihrer Erziehung eine Rolle gespielt haben. Natürlich war sie auch Pionier und hat die Altstoffsammelaktionen mitgemacht. Weil Samko Tále immer das meiste Papier ablieferte, bekam er einen Stern und durfte das Pioniergelöbnis sprechen. Mit dem Altstoffsammeln, das ihm so viel Lob einbrachte, hat er dann nach der Schule einfach weitergemacht.

Mitunter spricht er auch von seiner Krankheit, »bei der man nicht wächst und keinen Bart kriegt«. Samko ist nur 152 Zentimeter groß, will aber klarstellen, er sei »so einer wie alle anderen auf der Welt«. Er sei »hinsichtlich auf die Nieren invalidisiert«, niemand möge ihn für zurückgeblieben halten. – Was er aber ist, wie wir von der ersten Seite an merken. So ist alles, was er sagt und tut, doch eigentlich zu entschuldigen, und die Autorin tritt dem Leser nicht zu nahe, stellt ihm frei, was er auf sich beziehen will und was nicht.

In Samko kann sie die naive Sicht eines Kindes mit den Beobachtungen aus einem fast 44-jährigen Leben verbinden. Was sie in Komárno erlebte und erfuhr, hat sie in der Wahrnehmung dieser Gestalt grotesk zugespitzt, womöglich auch den tragischen Fall, dass ein 14-Jähriger sich zu Tode stürzte, während seine Freundin, die ihn begleiten wollte, zu Hause festgehalten wurde, weil ihr Vater Wind bekam. Diese Darinka Gunárová ist im Buch Tochter eines hohen Parteifunktionärs, der für Samko die höchste Respektsperson ist. Denn Dr. RS Gunár Karol hat verhindert, dass er auf eine Sonderschule kam, weil er seine »Intelligenz« schätzte. Stets hat er ihn freundlich empfangen und ihm Karlsbader Oblaten geschenkt, wenn er kam, um etwas »weiterzusagen« – über seine Tochter Darinka deren Freund, und über alle möglichen anderen Leute. Wer dadurch »reingerissen« wurde, war schließlich selber Schuld.

Beklemmend zu lesen ist das. Zugespitzt zeigt sich hier doch jene kindliche Abhängigkeit, in der viele lebten, der blinde Gehorsam, die Verkümmerung des persönlichen Gewissens. Was in Komárno wirklich geschehen ist, können wir aus der Samkos Darlegungen nur erraten. Doch eines ist klar: Daniela Kapitánová, die Weggegangene, hat keine gute Erinnerung daran. Und auch in der Gegenwart ist ihr vieles dubios. Ein satirischer Rundumschlag. Witzig und bitterböse.

Samko Tále: Buch über den Friedhof. Aus dem Slowakischen von Ines Sebesta. Wieser Verlag. 195 S., geb., 18,80 €.

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