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Ein Stück Wirklichkeit
Knochenarbeit in der Wohlstandsgesellschaft
Das Buch ist ungewöhnlich gut. Das Buch ist gewöhnlich schlecht. Es berichtet von der alten, körperlichen Arbeit. Von Ausbeutung und Schinderei. Jetzt und hier in der Bundesrepublik. Es erzählt vom Dreck, vom Lärm, von der maschinellen Besinnungslosigkeit, die in keinem Film, keiner TV-Serie und keiner Zeitung auftauchen. Das Buch ist von Frank Hertel geschrieben worden und heißt »Knochenarbeit«. Richtig schlecht wird es, wenn Hertel versucht, vom Konkreten zum Allgemeinen zu gelangen, wenn er aus der Beobachtung niedrigster Schichtarbeit auf seine sonderbaren Gipfel der Analyse klettert. Doch davon später.
Der studierte Soziologe braucht dringend Geld. Und weil ihn der intellektuelle Betrieb nicht einstellt (da ist er keineswegs der einzige, die Quote arbeitsloser Intellektueller liegt nicht sehr weit von der allgemeinen Arbeitslosenrate entfernt), geht er für neun lange Monate in eine Fabrik, in der Backwaren hergestellt werden. Solche, die man in den Supermärkten kaufen kann. Wer jemals TV-Werbe-Spots über die Herstellung solcher Torten und Törtchen gesehen hat, wie sauber alles ist, wie liebevoll der Meister dem Lehrling das Backen beibringt und die Tradition des Konditorhandwerks, der weiß, spätestens nach »Knochenarbeit« wie verlogen Werbung sein kann.
In Hertels Fabrik, die mit Sicherheit für viele andere Fabriken steht, fliegen die Paletten durch die Gegend, ist das Klo eine einzige Sauerei, wäscht sich niemand die Hände, schreit der Meister die Arbeiter an, wird geflucht, gesoffen und vor allem geschindert: »Wo früher drei Menschen gearbeitet haben, steht heute noch ein halber und muss doppelt so viel machen«, fällt dem Autor auf. Und wer fast zwei Jahre im Betrieb ist, der fliegt raus. Ach wenn er noch so gut gearbeitet hat. Denn dann müsste der befristete Vertrag in einen unbefristeten umgewandelt werden. Und dann greift der Kündigungsschutz. Das will der Unternehmer nicht. Es handelt sich also um einen wirklichen Scheiss-Job. Aber Hertel weiß trotzdem: »Auf unseren Schultern ruht die Welt. Wir halten das Rad am Laufen.«
Auch zur Debatte über angeblich faule Migranten ist das Buch ein Beitrag: Russen, Türken, Chinesen, Irakis und Iraner arbeiten in der Bude, in der Hertel schuftet: »Türken sind schon so eingedeutscht, das sie glatt als Landsleute durchgehen.« Hier schreibt einer nicht romantisch von Multi-Kulti, hier werden Kenntnisse aufs Papier gebracht.
Auf den Einstellungspapieren muss man unterschreiben, dass man nicht in der Gewerkschaft ist. Sonst wird man nicht eingestellt. So einfach ist das. Hertel fordert keck: »Frau Merkel, Mister Obama, Monsieur Sarkozy, arbeiten Sie einen Monat bei uns in der Fabrik, in der Spätschicht von 2 bis 10. Vielleicht verstehen Sie dann, warum immer weniger Menschen zur Wahl gehen.«
Muss ein Soziologe rechnen können? Zumindest dann, wenn er über Arbeitslosigkeit schreibt. Hertel rechnet vor, dass in den Regionen mit 20 Prozent Arbeitslosen die Leute nur nach »München oder Frankfurt« fahren sollten, da gäbe es ja Arbeit. Die gezählte Wahrheit: Es gibt in ganz Deutschland etwa 800 000 offene Stellen. Aber je nachdem wer zählt – die Manipulateure auf der Regierungsbank oder die an der Wahrheit Interessierten – kommt man auf drei bis sechs Millionen Arbeitslose. Da kannst du fahren wohin du willst, lieber Frank Hertel, es gibt einfach nicht genug Jobs. – Manchmal schreibt der Autor Unsinn: »Reich sein ist wirklich out.« Und meint, im Gefolge der Krisen habe »dasGeld seine Macht verloren«. Der selbe Hertel, der die Wirklichkeit seiner Fabrik genau und saftig beschreiben kann, hält sich die Augen zu, wenn es um die Machtfragen geht: Wer entscheidet über die AKW-Laufzeiten, wer entscheidet über die Dauer des Afghanistankrieges, wer über die Rente mit 67? Natürlich die, deren Reichtum sie auf andere herabsehen lässt, natürlich die, die noch reicher werden wollen: Durch längere Laufzeiten von AKWs, Arbeitskräften und Kriegen.
Auch wenn fast jeder Schritt in die Analyse bei Hertel in jenem blauen Dunst landet, den er sich selbst vormacht, ist das Buch zu empfehlen. Weil hier einer, im Stil von Theodor Plievier, die Worte raushämmert wie Geschoss-Salven. Weil hier einer ein Stück Wirklichkeit beschreibt, von der viele nichts wissen wollen. Und weil ihm manchmal Sätze gelingen wie: »Ob die Macht wohl einen BH trägt?« Wenn er jetzt noch rechnen lernt, darf man sich auf sein nächstes Buch freuen.
Frank Hertel: Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft. Hanser. 208 S., br., 14,90 €.
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