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Schmutzige Hof-Geschichte
Wolfgang Wippermann über einen Skandal im Grunewald
Der Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der FU Berlin wird meist als Faschismus-Forscher bezeichnet. Wie die beträchtliche Liste seiner Publikationen zeigt, mischt er sich aber auch in tagesaktuelle Probleme ein, wie jüngst mit einem scharfsinnigen Essay »gegen den Denkmalwahn der Deutschen«, und wendet sich gern auch anderen Perioden deutscher Geschichte zu. Nun hat sich Wolfgang Wippermann mit einer voluminösen Akte aus dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem beschäftigt, die dereinst einen »Skandal« ausgelöst hatte – eine Sexparty unter einer Gruppe von hochrangigen oder auch nur hochadligen Männlein und Weiblein aus dem wilhelminischen Hofgefolge, die im Anschluss an eine Schlittenfahrt durch den verschneiten Grunewald im Januar 1891 abgelaufen war.
Wer nun allerdings auf intime Details hofft, wird enttäuscht sein – das eigentliche Thema der Publikation verrät deren Untertitel: »Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich«. Wippermann legt eine kulturhistorisch und sozialpsychologisch determinierte Abhandlung vor über die im wilhelminischen Kaiserreich herrschenden, von Klassen- und Standesinteressen geprägten Standards bei der Auffüllung angeblich wertneutraler Wort- und Begriffshülsen wie Sittsamkeit, Männlichkeit und Ehre. Als roter Faden dient ihm die durch die genannte Sexparty ausgelöste »Affäre Kotze«.
Leberecht von Kotze (1850-1920) war einer von elf Zeremonienmeistern im preußischen Oberhofmarschallamt, und auf ihn war systematisch der Verdacht gelenkt worden, Schreiber anonymer Schmutzbriefe an Teilnehmer jener ominösen Party gewesen zu sein. Er wurde auf direkte Weisung Wilhelms II. im Juni 1894 von Militärs verhaftet und in Militärarrest gesetzt, obgleich er Rittmeister a. D. (also aus dem Militär ausgeschieden!) war und daher der Militärgerichtsbarkeit gar nicht unterstand. Da aber die inkriminierten unzüchtigen Briefe weiterhin ihre Adressaten erreichten, musste von Kotze bald wieder freigelassen werden. Und der wollte nun seine beschmutzte Ehre wieder herstellen, indem er ihm zugetragene Denunzianten aus seiner beruflichen Umgebung zum Duell forderte, was schließlich zum Tod eines derselben führte und von Kotze, der den tödlichen Schuss abgefeuert hatte, nur einige Monate »Ehrenhaft« auf der Festung Glatz einbrachte.
Wippermann entwickelt daraus eine akribische Studie zu dem wilhelminischen Männlichkeitsritual, das sich so entschieden von der in der Romantik gepflogenen »Empfindsamkeit« abhob und das u. a. den im 18. Jahrhundert ziemlich offenen Umgang mit der »griechischen Liebe« (sprich: Homosexualität) verteufelte: Homoerotik fiel der Verachtung anheim und musste, obgleich in hochadligen Kreisen erheblich verbreitet, aufs Schamhafteste versteckt werden – ja, sie wurde, wenigstens unter Männern, durch das Strafgesetzbuch kriminalisiert und wurde gern unter dem Deckmantel der zu verachtenden »Weibischkeit« als Verdacht geäußert, wenn jemandem etwas ans Zeug geflickt werden sollte.
Wippermann macht keinen Bogen um die Tatsache, dass im Kampf gegen Wilhelms »persönliches Regiment« auch den Liberalen und ihrer Presse diese Masche nicht fremd war. Eine Erklärung für den von sllerhöchster Stelle ausgehenden Wertewandel sieht der Autor in den Quälereien, die Wilhelm II. als Kind hatte über sich ergehen lassen müssen, damit der körperlich Behinderte zum »richtigen Kerl« geformt würde.
Man kann die Erklärung auch von einer ganz anderen Seite angehen – vom Aufstieg des Bürgertums und der von ihm gepflegten Werte in der Industriellen Revolution: Eben weil der wirtschaftliche Erfolg dem Adel im allgemeinen versagt blieb, betonte dieser zum Ausgleich seine angeblich im Althergebrachten wurzelnde andere, natürlich höhere Moral durch besonders rigide antizivilisatorische Wertmaßstäbe, bei denen »Härte« (auch gegen sich selbst) und »Männlichkeit« (im Auftreten und Benehmen) in der Rangliste ganz oben zu stehen hatten und der aus Sozialneid geborene Antisemitismus stets in gefährlicher Nähe lauerte.
Wippermann wäre nicht Wippermann, wenn er dem Weiterwirken dieses Kodex' in den faschistischen Männerbünden (Freikorps, SA, SS) nicht sein Augenmerk schenken würde. Seine Schlussfolgerung, dass dort bei der Anbetung von »Männlichkeit« die »Ehre« keine Rolle mehr spielte – und deshalb die faschistische »Männlichkeit« hinter die der wilhelminischen Zeit zurückfiel – muss man nicht unbedingt teilen. Die Mordorgien der wilhelminischen Ehrenmänner in China oder Deutsch-Südwest waren nicht weniger schlimm als die ihrer Nachfolger .
Wolfgang Wippermann: Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich. Primus. 168 S., geb., 9,90 €
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