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Süßes Bübchen, schwerer Brocken
»An einem schönen Sommermorgen« – Otto Mellies erinnert sich
Als er Otto Mellies als Ferdinand in »Kabale und Liebe« (Regie: Martin Hellberg, 1959) durch den Nebel gehen sah, Montag nachmittags im DDR-Fernsehen für die Schule, da habe er beschlossen, auch Schauspieler zu werden. So erzählte es mir Ulrich Mühe, und ich habe das auch – mehr als einmal – so hingeschrieben. Dann endlich sah ich »Kabale und Liebe« wieder und wartete auf jene Stelle, da Mellies durch den Nebel geht. Sie kam aber nicht. Kein Nebel. So ist das mit der Erinnerung: Manches fließt ineinander und steht schließlich als Bild auf der Grenze von Traum und Realität vor uns. Legenden sind eine Form der gelebten Wahrheit.
Mellies schreibt in seinen Erinnerungen »An einem schönen Sommermorgen« über Mühe: »Einen kannte ich allerdings, der war kein Feuerwerkskörper, sondern ein richtiger Komet am Theaterhimmel.« Das ist um so erstaunlicher, da ältere Kollegen sonst nicht gerade schwärmerisch über jüngere sprechen. Wann blüht ein außergewöhnliches Talent auf, wann stirbt es unentdeckt ab?
Mellies beschäftigt das in seinen Erinnerungen, die voller mit leichter Hand hingestreuter Theater-Anekdoten sind, jedoch vor einem ernsten, mitunter sogar schrecklichen geschichtlichen Hintergrund. 1945, beim Einmarsch der Russen in Stolp, seinem Heimatort in Pommern, kamen seine Mutter, seine Schwester und deren Kinder zu Tode. Wie genau, darüber kann er bis heute nicht sprechen. 1947, mit sechzehn Jahren, steht er in Schwerin auf der Bühne des Staatstheaters und spricht dort den Ferdinand vor – Lucie Höflich, eine von Max Reinhardts DT-Diven aus großer Zeit und dann UFA-Filmstar, leitet neben dem Schauspiel auch die angeschlossene Schule: »Gott ist das Bübchen süß!« schallt ihre Stimme aus dem dunklen Zuschauerraum herauf. Nicht ganz die Reaktion, die sich der angehende jugendliche Held erwartet hat – aber die Tür zum Theater steht offen.
Den Norden des Ostens kennt er seitdem gut. Von Schwerin kommt er nach Neustrelitz, eine Landesbühne, die von Wismar bis Güstrow und Anklam viel über Land fährt. Lehrjahre in einer für das Theater glücklichen Zeit, weil noch ohne Konkurrenz zum Fernsehen. Dann geht er nach Stralsund und Rostock, wo er es wagt, den Intendanten am Wochenende zu Hause anzurufen und um Erlaubnis zu bitten, kurzfristig für die DEFA Jean Marais synchronisieren zu dürfen. »Ihnen bringe ich schon noch Manieren bei«, tobt Hanns Anselm Perten – »und nach Berlin fahren Sie auch nicht«. Fuhr er doch – und wurde fristlos gekündigt.
In Erfurt erreicht ihn die Anfrage von Wolfgang Langhoff, sich doch einmal am Deutschen Theater vorzustellen. Damals suchten die Metropolen noch in der Provinz nach Talenten und kreisten nicht nur um sich selbst. Er wird genommen, und damit beginnt jene Ära von Otto Mellies am DT, die nun länger schon als ein halbes Jahrhundert dauert – nur Inge Keller ist länger am Haus.
Fortan hat Mellies aber auch mit seinem Ruf zu kämpfen, der gut aussehende Charmeur mit der voll tönenden Stimme zu sein. Doch nirgendwo kann man diesen ersten Eindruck besser widerlegen als am Deutschen Theater, bei Regisseuren wie Wolfgang Langhoff, Friedo Solter, Thomas Langhoff oder Alexander Lang. Letzterer war mit Bechers »Winterschlacht« wohl die ärgste formale Zumutung. Eine wichtige Erfahrung nennt er es heute: »Alexander Lang formte meine Figur zu einem grotesken, gefährlichen und zugleich biederen und sentimentalen Charakter.«
Damals liefen die Stücke viele Jahre, und so sah ich Mellies auch als Trutzwackerl in Solters »Schwitzbad«, einer Inszenierung von 1977. Die Rolle hatte er nach dem Tod von Dieter Franke übernommen, wie er dann auch immer wieder Rollen von verstorbenen Kollegen übernehmen musste – zuletzt von Kurt Böwe die des Alfred III. in Thomas Langhoffs »Besuch der alten Dame«. Sein »Nathan der Weise« (Regie: Solter) von 1986 stand fast zwanzig Jahre auf dem Spielplan des DT – und stünde da immer noch, ginge es nur nach dem Zuschauerzuspruch und der Fähigkeit von Mellies, dem päzisen Spracharbeiter, der Nathan-Rolle immer neu ihre bedrängende Gegenwärtigkeit zu geben.
Dieser Schauspieler beherrscht auch die scharfen, nur angedeutet-gefährlichen Zwischentöne, vermag Abgründe hinter der Fassade des situiert Bürgerlichen zu zeigen. Leider hat er dazu immer nur wenig Gelegenheit gehabt. Andreas Dresen besetzte ihn 1997 für »Raus aus der Haut« als doktrinären DDR-Lehrer Rottmann, der von seinen Schülern in einer RAF-Nachahmungstat entführt und gefangen gehalten wird. Dieser Mellies-Rottmann erweist sich jedoch als schwerer Brocken für die, die es sich leicht machen wollen mit ihm. Als zu schwerer Brocken.
Otto Mellies: An einem schönen Sommermorgen. Erinnerungen. Das Neue Berlin. 256 S., geb., 19,95 €
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