Alte und neue Helden

Im Vergleich der ärmsten Großstädte Deutschlands hat Leipzig die Spitze erobert

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Reinhard Bernhof, hier mit seiner Frau Ulla, besitzt viele wertvolle Dokumente aus der Wendezeit.
Reinhard Bernhof, hier mit seiner Frau Ulla, besitzt viele wertvolle Dokumente aus der Wendezeit.

Ich meine, der Oberbürgermeister unserer Stadt sollte im Namen der Bürger Berlins, da wir alle mal hier zusammenstehen, dem Staatsrat und der DDR Volkskammer vorschlagen, die Stadt Leipzig zur »Heldenstadt der DDR« zu ernennen.
Christoph Hein
Aus seiner Rede am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz


Leipzig, Heldenstadt, November 2010. Reinhard Bernhof weiß nicht, ob er ein Held war. Bis zum 9. November 1989 hätte er es ohne Wenn und Aber bejaht. Doch nachdem ein angeblicher Versprecher Günther Schabowskis die Mauer geöffnet hatte, keimten Zweifel. Der »Versprecher« schien etwas zu versprechen, eine Verheißung zu sein: für jene DDR-Bürger, die bald nicht mehr das Volk sein wollten, sondern ein Volk. Bernhof dachte anders. Er schrieb: »›Heldenstadt‹ assoziierte für mich Wolgograd, Leningrad; das Wort ›Held‹ vereinzelten Widerstand in den faschistischen Konzentrationslagern beispielsweise. Waren wir Revolutionäre, ohne es gewusst zu haben? War es wirklich eine Revolution, die wir veranstalteten?« Nachzulesen ist das in seinem Büchlein »Herbstmarathon. Innenräume einer Revolution«. Auf einer der ersten Seiten steht: »Dieses Buch ist unabhängig von einer Stiftung und ohne Förderung geschrieben worden.«

Reinhard Bernhof, 1940 in Breslau geboren, war nach der Flucht aus Schlesien und einer Odyssee quer durch Deutschland 1947 im Kreis Großenhain gelandet, 1952 dann mit der Mutter weiter ins Ruhrgebiet gezogen. Nach dem Schulbesuch hatte er in Duisburg eine Ausbildung zum Schlosser absolviert und zu den Initiatoren der Ostermärsche gehört. Bis er 1963, aus Liebe zu Ulla, mit der er noch heute glücklich verheiratet ist, in die DDR übersiedelte. Er studierte am Leipziger Literaturinstitut »Johannes R. Becher« und arbeitet seither als freischaffender Schriftsteller. War er 1989 ein Held?

In der Online-Ausgabe der Zeitschrift »Stern« las ich am 3. Oktober dieses Jahres unter der Überschrift »Schnauze Wessi!: Arme Leipziger Helden«, dass die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH ab »105 Euro pro Person im Doppelzimmer« Wochenendarrangements samt Stadtrundgang »Auf den Spuren der Friedlichen Revolution« anbietet. Sorry, für mich zu teuer. Reinhard Bernhof lud mich stattdessen zu einem Rundgang auf den Spuren seiner Revolution ein. Die Nikolaikirche lag nicht am Wege. Einige Male hatte er die Friedensgottesdienste dort besucht und einen Eindruck gewonnen, den andere nicht bestätigen: »Ich fühlte mich fremd. Es trafen sich dort die, die ausreisen wollten. Ich wollte bleiben.« Nachfühlen können Teilnehmer der Friedensgebete in der Nikolaikirche heute indes Bernhofs Worte: »Ich wollte nicht zurück in ein System, das ich einst verlassen hatte, wo noch immer Bundeswehrkasernen die Namen faschistischer Generäle tragen.«

So stehen wir an diesem Novembersamstag vor der Zweinaundorfer Straße 20 A. Hier ist Bernhof im Herbst '89 mehrfach gewesen. Im Obergeschoss wohnte Michael Arnold, der dafür Sorge tragen wollte, dass der soeben in Grünheide bei Berlin auf dem Grundstück Robert Havemanns erarbeitete Gründungsaufruf für das Neue Forum hektografiert, verbreitet und durch möglichst viele Unterschriften bekräftigt wurde. Dabei wollte Bernhof helfen. Dass dies nicht ungefährlich war, war allen, die sich in der Zweinaunhofer Straße 20 A trafen, klar. So bekamen Bernhof und seine Frau Ulla bald schon offiziellen »Besuch«, der ihnen unverhohlen drohte.

Macht die Gefahr, in die er sich begibt, den Helden? Oder sind es die Ziele, für die er sich einsetzt? Mit den Zielen des Neuen Forums stimmte Bernhof überein: »Wir wollten Mitsprache, Demokratie.« Wie unabdingbar Mitsprache war, nie war es augenscheinlicher als gerade zu diesem Zeitpunkt, da ein blindes, taubes, gelähmtes SED-Politbüro, das auf seinem Führungsanspruch bestand, Bürgern, die seit dem Sommer '89 über Ungarn und die CSSR die DDR verließen, »keine Träne« nachweinte.

Michael Arnold finden wir in der Zweinaundorfer 20 A nicht mehr. Bis auf eine Autowerkstatt steht das heruntergekommene Hinterhaus leer. Auf der Fahrt zu unserer nächsten Station sehe ich, dass es noch etliche solcher alten schrundigen Häuser in Leipzig gibt. Von der großzügigen Kur, die das Zentrum mit seinen luxussanierten Gebäuden, schönen Fassaden, teuren Geschäften und riesigen Kaufhäusern erfuhr, haben sie nichts abbekommen. Waren sie früher schon voller »Krusten, Narben, Risse, Schwären«, hat sich ihr Zustand in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert. Die meisten von ihnen befinden sich nun wieder in Privathand, Investitionen lohnen nicht mehr. Aber anders als das Haus in der Zweinaundorfer Straße sind viele dieser Häuser noch bewohnt. Hinter den Fenstern Gestalten, Gardinen, ab und zu ein Blumentopf. Die Menschen hängen an ihrer vertrauten Umgebung. Ein weiterer Grund, nicht wegzuziehen: Viel Miete wird man für solche Löcher nicht bezahlen müssen. Jeder vierte Leipziger ist heute laut einer Studie des Statistischen Bundesamtes »arm oder von Armut bedroht«. Im Ranking der ärmsten Großstädte Deutschlands steht die Heldenstadt neuerdings gar ganz oben auf dem Treppchen.

Unser Rundgang folgt nicht der Chronologie der damaligen Ereignisse, sondern, damit wir nicht unnötig durch die Stadt hin und her müssen, der ökonomischen Route. So führt Bernhof mich als nächstes zum Bundesverwaltungsgericht, das zu DDR-Zeiten das Dimitroffmuseum und das Museum für bildende Künste beherbergte. Im Dezember 1989 fand hier die erste öffentliche Großkundgebung des Neuen Forums in Leipzig statt, etwa 10 000 Menschen waren zugegen, und Bernhof hatte aus einem Brief Erich Loests vorgelesen, der in den 50er Jahren wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung« fast sieben Jahre in Bautzen II inhaftiert und 1981 aus der DDR ausgereist war. Loest hatte von seinem Wohnort aus Brühl bei Bonn geschrieben: »Natürlich komme ich gern wieder nach Leipzig. Von der Nikolaikirche bin ich zu einer Predigt eingeladen. Mir schweben die Tage zwischen dem 14. und 18. Dezember vor.« Es war dann Günter Grass gewesen, der in der Nikolaikirche als erster Schriftsteller das Wort ergreifen durfte. Loest reiste zu drei Veranstaltungen an, die der Leipziger Schriftstellerverband organisiert hatte. Er erschien »mit einem Großaufgebot westdeutscher Kameraleute ... So traten jetzt die Opfer auf«, notierte Bernhof, »medienwirksam«.

Dritter Halt am Dittrichring, an der »Runden Ecke«, dem ehemaligen Sitz der »staatssichernden« Bezirksbehörde. Anfang Dezember 1989 war Bernhof bei denen, die das Gebäude versiegelten. »Wir standen auf der Empore, die Hand zum V-Zeichen: Victory!« Dann wieder nagende Gedanken: Würden sie, die alles angeschoben hatten, schon bald gar nichts mehr mit der Revolution zu tun haben, würden sie weggedrängt? »So ist es gekommen«, sagt Bernhof. Er spricht von »herumgedrehten Köpfen« ehemaliger »Blockfreunde«, die zu Juniorpartnern der Westparteien wurden. Das Wort »geklaute Revolution« fällt.

Weiter zu einer Villa in der Erich-Fuchs-Straße. Wenige Tage vor Weihnachten hatten ominöse Rauchzeichen die Aufmerksamkeit einer Anwohnerin erregt. Diese rief daraufhin Bernhof an, der als Vertreter des Bürgerkomitees mit einem ihm gut bekannten Staatsanwalt »ermittelte«. Sie erzwangen sich Zutritt zur Villa und trafen auf Uniformierte, darunter einen jungen Mann im Dynamo-Dress, »mit Schultern so breit wie die eines Hebers im Mittelschwergewicht«. Nach der Wahl von Egon Krenz zum neuen Staatsratsvorsitzenden im Oktober war nicht nur Bernhof klar gewesen, dass die SED damit »die Todesglocken für die DDR ausgelöst« hatte: Gerüchte über einen bevorstehenden Militärputsch kursierten.

Schließlich fahren wir nach Gohlis, zum ehemaligen Hauptwerk des größten Leipziger Schwermaschinenbaubetriebes TAKRAF. Eigentlich steht es ja ziemlich am Anfang von Bernhofs Geschichte, aber auch an deren Ende. Das Werktor ist verschlossen. Durch die Fenster blicken wir in leere, schmutzige, ausgewaidete Hallen. Gegenüber das frühere TAKRAF-Klubhaus »Heinrich Budde«. Dort hatte Bernhofs Frau Ulla gearbeitet, viele Jahre als Leiterin des »Ensembles der Stahlbauer«, zu dem vom Arbeitertheater bis zum Akkordeonorchester 27 Volkskunstzirkel gehörten, zuletzt als Klubhausleiterin. Bis Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, versehen mit einer schwindelerregenden Tagesgage, das Kombinat im Auftrag der Treuhand liqudierte. Ulla, die im Klubhaus den Gründungsaufruf des Neuen Forums vervielfältigt, für Unterschriften geworben hatte und mit ihrem Mann auf die Straße gegangen beziehungsweise um den Ring gelaufen war, als das noch Mut erforderte, fand sich auf der Straße wieder. Victory?

Wir sitzen im Wohnzimmer der Bernhofs, auf dem Sofa. In jenem Herbst, als Reinhard Bernhof einer der ersten Kontaktmänner des Neue Forums wurde, saßen hier junge und ältere Menschen auf dem Fußboden – wollten sie alle eine bessere DDR? Damals, als sie Hunger bekamen, schmierte Ulla für sie Schnitten. Heute, wir sind eine kleine Gesellschaft und es ist später Samstagnachmittag, serviert sie warmen Apfelstrudel mit Vanilleeis und Kaffee. Wir sprechen von der hohen Arbeitslosigkeit, davon dass die Stadt ehemals zehn Prozent zur gesamten DDR-Industrieproduktion beisteuerte, sogar 35 zu deren Gießereiindustrie. Wir sprechen davon, dass die Treuhand Konkurrenten ausschaltete, indem sie hiesige Betriebe als Schrott bewertete, obwohl das in vielen Fällen nicht stimmte. Wir sprechen davon, dass damals 100 000 Industriearbeitsplätze verlorengingen und dass Ansiedlungen wie die von BMW mit 5000 Arbeitsplätzen den Verlust nicht ausgleichen können. Nicht zuletzt sprechen wir von Neonazis, die sich heute am Völkerschlachtdenkmal treffen ...

Die Revolution: geklaut oder verkauft? Das Ergebnis kennt keinen Unterschied. Mancher, der damals mitreden wollte, ist inzwischen verstummt. Wäre er besser gleich still geblieben? Arm das Land, das Helden braucht. Im Augenblick sieht es danach aus, als käme auch das neue, größere Land nicht mehr ohne Helden aus. Man kann nicht sicher sein, wer sie sein werden.

Reinhard Bernhof: Herbstmarathon. Innenräume einer Revolution. Plöttner Verlag, 199 S., brosch., 10,90€.

Reinhard Bernhof in der Zweinaundorfer Straße 20 A, einst ein konspirativer Treffpunkt.
Reinhard Bernhof in der Zweinaundorfer Straße 20 A, einst ein konspirativer Treffpunkt.
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.