Frau Kiewning tanzt
Die 75-jährige Berlinerin hat viel erlebt und will auch weiterhin etwas erleben
Anita Kiewning ist Jahrgang 1935 und hat viel erlebt. Weil sie jungen Menschen davon berichten möchte, hat sie sich bei der Zeitzeugenbörse eintragen lassen. Ein weiterer Grund: Sie möchte immer noch etwas erleben. Das klappt recht gut, wie wir sehen werden.
Die Berliner Zeitzeugenbörse, 1998 gegründet, vermittelt Gesprächspartner, die auskunftsfähig zu verschiedenen Themen sind. Anita Kiewning wird dort unter den Stichworten »Kriegskinder« und »Schule in der DDR« geführt. Denkbar wären auch die Stichworte »Alleinerziehende«, »SED-Parteisekretäre«, »Wende« oder »Nachwende«. Aber vielleicht ist Anita Kiewning nicht auf die Idee gekommen, diese Rubriken für sich vorzuschlagen, oder man hat sie ihr nicht zugeordnet.
Man kann Anita Kiewning buchen. Zwei Mal wurden ihre Erinnerungen bisher in Anspruch genommen – von Journalisten. Die Kollegen besuchten sie in ihrer Berliner Wohnung und interviewten sie ausführlich. Begegnungen, die sie nicht missen möchte. Beim ersten Mal klingelte Carsten M. Fleck, ein Deutscher, der in den USA lebt. Carsten M. Fleck befragte sie für einen Dokumentarfilm zu ihrer Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Gerade bekam sie Post von ihm: Er teilte ihr mit, dass ihre Geschichte nun auch Teil einer Ausstellung war, die man bis Mitte Dezember vergangenen Jahres im Deutschen Haus in New York besichtigen konnte. Anita Kiewning in New York! Schaut, schaut.
Und dies erzählte sie Carsten M. Fleck: Die Mutter, eine kleine Frau, die sie bis heute »meine kleine Mutter« nennt, hatte drei Kinder – zwei Mädchen und einen Jungen. Vom gutaussehenden, nicht unbedingt arbeitsfreudigen Vater hatte die Mutter sich scheiden lassen; er fiel später in Stalingrad. Um die Kinder zu ernähren, arbeitete die »kleine Mutter« in einer Kartonagefabrik in Kreuzberg. Anita war acht, als Bomben fielen: Der Krieg kehrte nach Berlin zurück. Der Keller im Haus in der Zorndorfer, heute Erich-Mühsam-Straße, war der »kleinen Mutter« zu unsicher. Sobald die erste Sirene ertönte, schnappte sie sich ihre Gören und eilte mit ihnen zu den Bunkern im Friedrichshain. Wurde ihr klar, dass sie es bis dorthin nicht schaffen würden, suchte sie Schutz an der Landsberger, im Bunker der Brauerei.
1943/44 wurden Berliner Kinder und ihre Mütter evakuiert. Sie verschlug es nach Landsberg, heute Gorszow, auf einen Großbauernhof. Als sie 1945 auf dem Berliner Ostbahnhof wieder aus dem Zug stiegen, fand die »kleine Mutter« sich nicht mehr zurecht: überall Trümmerberge. Eine bange Frage kroch hoch: Sind wir ausgebombt oder nicht? Sie bogen in ihre Straße ein. Haus Nummer Eins – gab's nicht mehr, das war weg. Weg auch Nummer Zwei und Drei. »Unser Haus stand noch. Die Wohnung im dritten Hinterhof, Parterre. Eiskalt, Eiszapfen an den Fenstern. Auf dem Hof befand sich ein Stall, in dem ein Kutscher die Pferde unterstellte. Manchmal nahm er uns mit auf Tour: Er fuhr Brennholz und holte Kartoffelschalen. Woher er das Holz hatte, weiß ich. Kartoffelschalen waren begehrt. Meine kleine Mutter hat sie in der Pfanne für uns gebraten. Falls wir mal Kartoffeln hatten. Wir besaßen ja keinen Vater, der stoppeln oder hamstern fuhr ...«
Schulanfang in der Sowjetischen Besatzungszone. Anita Kiewning glaubt, sich zu erinnern, dass es dort gleich nach dem Krieg für alle Schüler ein kostenloses Mittagessen gab. Chroniken berichten dagegen, dass kostenlose Schulspeisung erst 1950 in der DDR eingeführt wurde. Anita Kiewning besteht darauf: Die warme Mahlzeit wurde in Kübeln geliefert. Jeden Tag bestimmte der Lehrer, wer den Kübel auskratzen durfte. Sie durfte es nie. Was in solch einem Kübel noch alles drin war! Es stillte den Hunger für einen Tag. Sie, obwohl von Natur aus pummelig, war hungriger als andere Kinder. Der Lehrer wusste das. Für seine Grausamkeit hasste sie ihn.
Der zweite Journalist, der Anita Kiewning aufsuchte, kam aus London. Er heißt Phil Collins, wie der britische Popstar. Collins, der sich auch als Videokünstler einen Namen macht, arbeitete an einem Projekt: Er drehte einen Film mit dem Titel »Marxism Today«, in dem er ehemalige Lehrer für Marxismus/Leninismus oder Staatsbürgerkunde der DDR befragte. Dieser Film wurde auf der letzten Berlin Biennale gezeigt. Anita Kiewning kommt darin nicht vor, wahrscheinlich war ihre Geschichte nicht spektakulär genug. Doch angehört hat sich Collins, was sie zu erzählen hatte. »Es war ein langes, gutes Gespräch«, sagt Anita Kiewning. Welche 75-Jährige erlebt schon, dass ihr ein britischer Künstler ins Haus schneit?
Ihm hat sie Folgendes erklärt: dass sie unbedingt Lehrerin werden wollte. Obwohl ihr eigener erster Lehrer keinen Schimmer von Pädagogik besaß. Oder gerade deshalb. Sie war eine Leseratte, eine gute Schülerin. So dass man sie, das Kind einer Arbeiterin, schließlich aufs Gymnasium schickte. Das Abitur wollte sie, studieren! Oft kommt es anders, als man denkt. Immer waren in der DDR Lehrerwerber unterwegs, und da Lehrerin ja ihr Traumberuf war, ließ sie sich ans Lehrerbildungsinstitut in Berlin-Köpenick delegieren, wo man sie ein Jahr lang ausbildete – zur Unterstufenlehrerin. Und schon stand sie im Schuldienst, in der 2. Oberschule Berlin-Friedrichshain. Diese Schule lag dem Hain, in den ihre »kleine Mutter« geeilt war, sobald die erste Sirene ertönte, genau gegenüber. Doch kleine Kinder zu unterrichten, Geduld zu haben, lag ihr nicht. Viel lieber hätte sie mit ihren Schülern diskutiert, über die neue Gesellschaft zum Beispiel, und ihnen die Literatur nahegebracht: vor allem Heinrich Heine. Während des Aufstands im Juni 1953 war sie mit einer jungen Kollegin zum Nachtdienst eingeteilt worden. Sie saßen zusammen im Lehrerzimmer, das sie hätten verdunkeln sollen. Lebte man denn noch im Krieg? Auf dem Bunkerberg standen sowjetische Soldaten und ballerten ins hellerleuchtete Fenster. Haarscharf flog eine Kugel an ihr vorbei: »Wir sind ja so dumm gewesen.«
Anita Kiewning war FDJ-Mitglied. Nach Stalins Tod hielt sie in der Stalinallee im Blauhemd vor seinem Denkmal Wache – tränenüberströmt. Aus der FDJ-lerin, der Unterstufenlehrerin, wurde nach fünfjährigem Fernstudium eine Deutsch- und Staatsbürgerkundelehrerin, ein SED-Parteimitglied, eine SED-Parteisekretärin, eine Oberstudienrätin. »Als 1989 alles kippte, sagten mir meine Kollegen: »Anita, mach' dir keine Sorgen: Du bist immer ehrlich gewesen.« Sie wird noch immer zu Klassentreffen eingeladen. Mit einem kleinen triumphierenden Lächeln sagt sie: »Manche Lehrer werden das nicht«.
Staatsbürgerkunde hat Anita Kiewning mit geteilten Gefühlen unterrichtet. Was für die 9. Klasse auf dem Lehrplan stand, gefiel ihr. Da ging es unter anderem um die Gründung der DDR, darum, dass dieser Staat erst entstanden war, nachdem die westlichen Besatzungszonen eine eigene Währung eingeführt hatten. Und es ging darum, dass die DDR auch ihr, Anita Kiewnings, Staat war – ein Staat der kleinen Leute, ein Friedensstaat. Man musste sich nur genug anstrengen, um das Paradies auf Erden zu errichten. Fast klang es zu einfach. Doch glaubt man nicht gern, die Wahrheit sei einfach?
Den Lehrplan für die 10. Klasse mochte Anita Kiewning weit weniger als den der 9. Sie sollte Kenntnisse über die sozialistische Ökonomie, die entwickelte sozialistische Gesellschaft und die sozialistische Menschengemeinschaft vermitteln. All diese Begriffe klangen nicht mehr einfach, sondern nach Theorie, Konstruktion – aus Selbstbetrug und Hoffnung geboren. Sie spürte es ebenso wie ihre Schüler. Doch die Schüler spürten auch: Die Lehrerin meinte es gut mit ihnen. Und sie strengte sich wirklich an, damit die Hoffnung sich erfüllte. Was sollte schlecht sein an einer sozialistischen Menschengemeinschaft? Auch Kinder aus dem Evangelischen Missionshaus in der Georgenkirchstraße besuchten die Schule. »Ihretwegen«, erinnert sich Anita Kiewning, »habe ich damals die Bibel gelesen. Bei uns ging es recht liberal zu. Wir haben die Schüler aus dem Missionshaus, bei denen die Leistung stimmte, zur Erweiterten Oberschule geschickt. Sie sind auch alle genommen worden.«
Ich bin der dritte Vertreter meiner Zunft, dem sie in ihrem Wohnzimmer Tee reicht. Schon nach den ersten Minuten unseres Gesprächs war mir klar: Sie ist auch meine Lehrerin gewesen. Als sie vom Ostbahnhof sprach, dem Friedrichshain, dem Frauengefängnis in der Barnimstraße, das auf meinem Schulweg lag, spülte das Gedächtnis ihren Namen plötzlich wieder nach oben: Er stand unter meinem Zeugnis der 2. Klasse.
Wiedererkannt hätte ich »Frau Kiewning«, wie wir sie ansprachen, nicht. Mehr als 50 Jahre sind vergangen, seit sie zu den Frauen gehörte, die mich Lesen, Schreiben und Rechnen lehrten – Unterstufenlehrer gab es damals kaum. Doch wie hätte ich sie wiedererkennen sollen, wenn ich nicht einmal mehr ein Bild der jungen »Frau Kiewning« vor Augen hatte? Wie sah sie nur damals aus? Was lässt Erinnerung ein, was sperrt sie aus?
Nun bin ich »zurückversetzt« – das Wort trifft es. Die Wahrheit ist: Für die damals Siebenjährige war »Frau Kiewning« eine Gegebenheit, die keine Gefühlswallung auslöste. Siebenjährige interessieren sich nicht dafür, wer ihre Lehrer sind. Das Universum kreist um sie selbst.
Die Journalistin müsste fragen, wie zuverlässig Erinnerung überhaupt, also auch die der Zeitzeugin Kiewning ist. Die ehemalige Schülerin möchte wissen: Was wusste sie nicht von der Lehrerin? An der Wand tickt eine seltsame Uhr – Porträts markieren jede Ziffer. Anita Kiewning erklärt: »Meine Kinder und Enkel.« Naja, eigentlich seien es die Kinder und Enkel von Erika. Fünf der acht Kinder ihrer kranken und früh verstorbenen Schwester seien bei ihr aufgewachsen: Marina wurde von ihr adoptiert, für Ilona, Carola, Dieter und Cornelia übernahm sie die Pflegschaft. Der Mann, den sie heiraten wollte, ein junger Volkspolizist, gab angesichts der plötzlichen und überwältigenden Kinderschar Fersengeld. »Was ich ja verstehe«, sagt sie. Wirklich? Sie lacht und setzt hinzu: »Heute.«
Auch ihren feinen Humor habe ich damals nicht bemerkt; eine Art, Leben zu bewältigen. Nachdem Anita Kiewnings Staat von der Weltkarte verschwunden war, half ihr der Humor aus dem »tiefen Loch«, in das sie gefallen war. Ein paar Jahre arbeitete sie noch in einer Wohngruppe der PDS, aber als dort einige »alte, selbstgerechte Männer hinkamen, die über alles meckerten«, trat sie aus. Das waren nicht die Menschen, mit denen sie Zeit verbringen wollte. Sie meldete sich bei der Zeitzeugenbörse. So etwas wie eine neue Heimat fand sie aber im Verein »Jahresringe e.V.«. Dort diskutiert man, lacht man, kocht man, tanzt man miteinander. Jawohl, Frau Kiwning tanzt! Schaut, schaut.
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