Die Flüsterer
Ohne die Arbeit von Ballettmeistern gäbe es keinen tänzerischen Zauber
Auf der Bühne stehen mehr als zwei Dutzend weiß gekleidete Frauen. Ihre Tüllröcke reichen bis zu den Waden, ihre Arme scheinen vogelhaft zu flattern. Ein »Ballet blanc«, ein romantisches weißes Ballett ist das – und die Tänzerinnen sind dafür ausgebildet, möglichst schwerelos zu wirken. Wenn sich der Vorhang hebt und solche zarten Wesen in Spitzenschuhen über die Bühne schweben, denkt kaum jemand daran, wie es kommt, dass sie so schön tanzen. Nicht nur eigener Fleiß und Schweiß stehen hinter der Brillanz der Körperkünstlerinnen – sondern auch das Knowhow und die Kreativität ihrer Ballettmeister.
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Sie sind die heimlichen Stars beim Bühnentanz. Man könnte sie auch »Ballettflüsterer« nennen, denn ohne sie wäre alle Virtuosität – ob im klassischen oder modernen Ballett – ungeordnetes, ausdrucksloses Chaos. Die »Botschaft« einer Choreografie, ihre Ästhetik und Aura, würde nicht vermittelt. Und wer weiß, ob die Musikalität der Tänzer erkennbar wäre! Im »Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier«, das der aus den USA stammende Choreograf Neumeier in Hamburg-Hamm aufbaute, ist das »Formen« graziler, junger, muskulöser Menschen der Alltag. Sieben Ballettmeister, einige Gastdozenten – darunter die Grande Dame Irina Jacobson – sowie ein Assistent sorgen für die optimale Fitness der Truppe. Und für ihren künstlerischen Ausdruck!
Denn gerade das Füllen der »Löcher« in den Choreografien mit schauspielerischem Charme macht hervorragende Tänzer aus. Nur dann springt der Funke, wie man so sagt: wenn Spielinhalt und Tanzfreude das Akrobatische noch überflügeln. Die Grundlage ist dennoch stets das Einstudieren der jeweiligen Schrittkombinationen. »Es ist eine anstrengende Arbeit, aber sie ist wunderschön«, sagt Laura Cazzaniga, eine gebürtige Italienierin, die früher selbst als Erste Solistin auf der Bühne stand. Oft leitet sie morgens ein Training, das immer zu Beginn des ballettösen Arbeitsalltags ansteht. In zwei Gruppen – Frauen und Männer getrennt – werden in Hamburg ab zehn Uhr die Beine gebeugt und gestreckt, die Füße bis ans Ohr geworfen und langsam herunter geführt.
Nach einer Stunde sind alle 57 Tänzer »warm«, vielmehr schweißheiß. Dann wird getanzt, was das Zeug hält. Die Männer springen meterhoch wilde Kombinationen, die Damen bewegen sich in Spitzenschuhen rasant und elfengleich. Raffinesse, Geschmeidigkeit und Eleganz kommen nicht von ungefähr: Sie sind das Ergebnis unerbittlicher Übungsstunden. Dabei hat jeder Trainingsleiter seine »Zaubersprüche«. »Move big, move big!« ruft die mädchenhafte Laura Cazzaniga, und sie meint: »Bewegt euch, bewegt euch mehr!« Ihr direkter Chef Kevin Haigen – Erster Ballettmeister, Lehrer an der Ballettschule von Neumeier und ein Tanzbesessener ohnegleichen – ruft gern halb singend: »Stretch the knee!«, also: »Streckt das Knie!« Das muss man im Ballett wirklich oft.
Auch in Berlin beim Staatsballett wird täglich hart trainiert. 90 Tänzerinnen und Tänzer sind es hier. Tomas Karlborg, Tänzer, Ballettmeister und gebürtiger Schwede, ist für seine pfeffrige gute Laune bekannt: Bei ihm wird jede und jeder blitzwach. Er verfügt neben didaktischem über enormes Showbiz-Talent. Und Karlborg landet sichere Treffer. »Ich bin Staatsballettmeister, mein Lieblingswort!« Das intoniert er anschwellend, man muss schmunzeln. Aber er kann auch ernst sein: »So geht es eben nicht!«, sagt er dann streng. Und schauspielert gleich wieder.
Tomas macht einen Buckel, verzieht das Gesicht. Lacher! Dann richtet er sich auf, zeigt den Schulter-Brust-Bereich: »Ihr müsst euch präsentieren!« Wenn »seine« hochkarätigen Jungs und Mädels dann im Einklang mit der Musik von links nach rechts und von rechts nach links hüpfen, feuert Tomas sie weiter an: »Be Bolshoi!« Seid Bolschoi! Oh ja, ans Moskauer Bolschoi-Ballett zu denken, hilft immer.
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Die Sprache im Ballett ist meist vielgestaltiges Englisch. Der Fachjargon ist zwar Französisch. Dennoch wird »Jeté« (»Geworfen«), was sich vornehm »Jöhteeee« ausspricht und das Auswerfen der Beine meint, oft zu einem dynamischen »Dschättey!« Beim Ballettmeistern ist aber eh nicht wichtig, was gesagt wird, sondern was verstanden wird. So, wenn Maja Plisetzkaja, die vom Bolschoi-Theater die Ballettwelt eroberte, eine klassische Partie coacht. »Coachen« heißt: Rollenstudium betreiben. Hierfür sind berühmte Solisten begehrt, sie reisen rund um den Erdball, um bestimmte Partien an die neue Generation weiterzugeben. Plisetzkaja ist für ihre Schwäne bekannt: für den »Sterbenden Schwan«, ein Solo, das auf Gala-Abenden jedes Mal ein wenig anders ausfallen darf. Und für das Glanzstück der Klassik, die Doppelrolle »Odette/Odile« aus dem »Schwanensee«.
Es ist keineswegs die Erfindung eines perfiden Direktors, Odette und Odile mit derselben Tänzerin zu besetzen. Das wird im Film »Black Swan« nur behauptet. Faktisch werden seit 1877, seit dieses Ballett zu Musik von Tschaikowsky existiert, die Schwanenkönigin und ihr böses Double von einer Ballerina getanzt. An der Pariser Oper übte Maja Plisetzkaja die Partie mit Marie-Agnès Gillot. Sie sprach mit der brünetten Französin, die wie ein Mannequin aussieht, fließend russisch. Aber da Plisetzkaja als »Old Lady« noch rüstig ist, »markierte« sie die Bewegungen, tanzte sie vereinfacht vor. Mit viel Einfühlungsvermögen. Marie-Agnès hatte kein Problem, den Esprit, den Plisetzkaja ihr vermittelte, zu übernehmen.
In Berlin ist man genauso fleißig. Hier coachte die Ballettmeisterin Christine Camillo die zierliche Rotblonde Iana Salenko. Die Erste Solistin, aus Kiew stammend, entwickelte mit ihrer Trainerin eine faszinierende Neuinterpretation. Nicht nur stolz und bravourös, wie es Tradition ist, tanzt sie die Odette, sondern auch betont erotisch, zart und feminin. »More heart!«, mehr Herz, verlangte Camillo bei den Proben oft. Und Iana blühte auf. Da sie zudem eine glasklare Technik zeigt und die schwierigen »Fouettés«, die seriellen Pirouetten, tadellos »auswärts« – mit nach außen gehaltenen Knien – absolviert, wirkt ihre sinnliche Darstellung umso intensiver.
Dass die Beziehung einer Tanzkünstlerin zu ihrer Meisterin sehr innig sein kann, bestätigt Julie Kent. Sie ist eine der bedeutendsten Ballerinen von Welt, die derzeit tanzen – meistens tut sie das in New York, beim American Ballet Theatre (ABT). Viele Jahre arbeitete sie dort eng mit einer bestimmten Ballettmeisterin zusammen und empfand für sie ein Gefühl, als seien sie verwandt. Dann bekam die Trainerin Krebs und starb nach wenigen Monaten. »Unfassbar«, sagt Julie noch heute. Sie glaubte, nie wieder tanzen zu können. Das hat sich zum Glück nicht bewahrheitet.
Als John Neumeier und Kevin Haigen mit ihr die »Kameliendame« einstudierten, hatten sie nicht den Eindruck, dass Julie Kent etwas fehlt. Da hatte sich die Ehefrau des künstlerischen Leiters des ABT schon wieder perfekt im Griff. Über Haigens Witze konnte sie lauthals lachen, und Neumeiers präzise Anweisungen halfen ihr, aus der Titelheldin des Romans von Alexandre Dumas eine ergreifend lebendige Kunstfigur zu machen. Eine ihrer Lieblingsrollen, sagt Julie Kent. Auch ein Verdienst ihrer Ballettmeister.
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Eine fast noch größere Herausforderung als das Coachen der Solisten ist die Arbeit mit dem Ensemble. Hier müssen viele Körper in Gleichklang gebracht werden. Was manchmal seltsame Methoden erfordert. So klingt Kevin Haigen für Außenstehende mitunter wie ein Orakel. Ein leises »Awhakawhakawhak« heißt »walk, walk, walk«, drei Schritte sind gemeint. Welche, erkennen die Tänzer an der Gestik. Denn wenn jemand leise spricht, müssen alle ruhig sein und sich konzentrieren!
Haigen, der oft neben Neumeier an der Spiegelwand sitzt, um die Tanzenden zu dirigieren, sieht aber auch alles: Kein Wackeln, keine Unsicherheit entgeht ihm. »Wackeldackel!« Sein schlimmstes »Schimpfwort«. Meist kichert der Amerikaner dabei, macht humorvoll klar, dass da was nicht geht. Und wenn ein Tänzer seine Partnerin falsch anpackt, zeigt er, wie das Gewicht zu verlagern ist. Der enge menschliche Kontakt ist wichtig. Ist ein Künstler verletzt – was in dem Beruf oft passiert – wird aufgepasst, dass die Sache ausheilt. Auch Überanstrengung gilt als Alarmzeichen: Zeit für den Schongang. Sonst steigt die Verletzungsgefahr. Ballettmeister achten wie Fußballtrainer darauf, dass ihre »Schäfchen« fit sind, passen das Programm der Kondition an. Dabei hilft es, dass sie selbst Ballerinos und Ballerinen waren: umjubelte, auch schmerzgeplagte.
Laura Cazzaniga indes beteuert, die meisten Schmerzen habe sie gehabt, als sie mit dem Profi-Tanz beim Wechsel zur Ballettmeisterei aufhörte. Das »Abtrainieren« birgt Beschwerden: Muskeln und Nerven verlangen nach der täglichen Mega-Dosis Bewegung. Erst nach einem Jahr, sagt Laura, hatte sie wieder ein normales Körpergefühl. Wenn sie heute das Training leitet, versucht sie, die Tänzer damit »auf ihren Tag, auf die anschließenden Proben vorzubereiten«. Und vor jeder Vorstellung gibt es ein »Aufwärmtraining«. Es herrscht Anwesenheitspflicht. Das hat Hintersinn: körperlich, auch psychologisch. Kevin Haigen sagt es so: »Das ist wie die Ausübung einer Religion. Man platziert sich beim Training insgesamt als Mensch; nicht nur den Körper, sondern auch die Seele und den Geist.«
Alle Bemühungen dienen der Aufführung. Der starke, schöne Tänzer Edvin Revazov aus der Ukraine und die langbeinige, stets harmonisch wirkende Ballerina Joëlle Boulogne aus Frankreich – beide sind wahre Personifikationen von Anmut – tanzen in John Neumeiers »Parzival«. Ein hoch kompliziertes Stück. Ed in der Titelrolle muss sich vom hartherzigen Stoffel zum geläuterten Wunderheiler mausern. Joëlle als seine allein erziehende Mutter muss stets stark sein, obwohl sie doch vor allem aus Liebe besteht. Ihr Miteinander macht die Gegensätzlichkeiten der Charaktere deutlich: In klaren Linien greift Ed um sich, während Joëlle alle, auch die auf Trauer beruhenden Regungen mit Weichheit zeichnet. Ohne intensive Arbeit mit Ballettmeistern ist solch künstlerische Genialität überhaupt nicht vorstellbar. Das Maß aller Dinge nennt Kevin Haigen: »Das Ergebnis muss die Seele berühren!«
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