Die Angst vor dem Bösen

Eugen Sorg über die dunkle Seite der menschlichen Seele

  • Antje Stiebitz
  • Lesedauer: 5 Min.

Es sind die Abgründe der menschlichen Natur, die Eugen Sorg erforscht. Dem Kriegsreporter und Rotkreuz-Delegierten enthüllen sich auf seinen Reisen in die Krisengebiete unserer Zeit unvorstellbare Grausamkeiten. Ob im zerfallenen Jugoslawien, in Liberia oder Sudan – überall ist er mit den destruktiven Kräften des Menschen konfrontiert, die zügellos wüten, sobald es die Umstände erlauben. Der Autor, eigentlich Psychotherapeut, beobachtet, spricht mit Tätern, Opfern und kommt zu dem Schluss, dass Ideologie und Religion nicht primäre Ursachen von rauschhafter Brutalität seien, sondern die meisten Menschen solche Anschauungen lediglich nutzten, um ihren Rausch zu legitimieren. »Man bestiehlt und tötet den anderen aus konkreten Gründen: Habgier, Eifersucht, Rache und Lust, zur Selbstverteidigung, weil man dazu gezwungen wird, weil man glaubt, nicht erwischt zu werden – aber kaum aus einer abstrakten Idee heraus.«

Obwohl Psychotherapeut, will er vom Psychologisieren der Experten und Medien nichts mehr wissen. »Sie zogen die Möglichkeit, dass Menschen mit einer genuinen Neigung zum Bösen ausgestattet und durch den Zustand der Gesetzlosigkeit förmlich beflügelt werden könnten, nicht einmal in Betracht«, kritisiert er. Nicht die gesellschaftlichen Umstände will er beleuchtet wissen, sondern den Einzelnen, der »eine individuelle moralische Wahl« für oder gegen das Böse treffen könne. Ob einer dem anderen beistünde oder ob er ihn erschlage, sei nicht vorauszusagen oder rational herzuleiten, schreibt Eugen Sorg. Seine Beobachtungen liefern für beide Reaktionsmuster Belege.

Die Aufklärung habe die Idee des Bösen verworfen, man glaubte, ihm durch Vernunft und Bildung entgegentreten zu können. Gewalt sei ein Tabu der westlichen Gesellschaft, argumentiert Sorg weiter, und »die Moderne ächtet die Gewalt und definiert sich als Gegenmodell zum Brutalismus des Mittelalters«. Der Glauben an die Wirksamkeit von Therapie und Sprache mache uns blind für die Gefahr des Bösen. Selbst derjenige, der das Böse weissagt, werde entweder ignoriert oder als überspannt dargestellt. Denkt er bei diesen Worten an sich selbst?

Ab und an war ich geneigt, das Buch aus der Hand zu legen, da manche der detaillierten Gewalt-Beschreibungen meine Erträglichkeitsgrenze berühren. Aber Sorgs gewandter Schreibstil und mein Wille, auch beunruhigende Realitäten nicht zu ignorieren, ließen mich weiterlesen. Seine Beschreibungen verunsichern mich, schließlich glaube ich auch an die heilende Kraft des Dialogs. Und wer will schon das Böse verkennen, wenn es vor der Tür steht?

Doch die Spirale des Bösen dreht sich weiter. Jetzt nimmt Eugen Sorg Todesengel in Seniorenheimen, die Versuchspersonen des Milgram-Experiments, jugendliche Amokschützen, Gewalttäter und den Naziverbrecher Eichmann unter die Lupe. Es sei allein die Lust am Bösen, die ihre Taten entstehen ließ, ist Sorg überzeugt. Nur wolle unsere Gesellschaft das einfach nicht annehmen.

Nach und nach passiert im Buch das, was er herbeiredet: Durch die mangelnde Einbettung in einen sozialen und psychologischen Rahmen verselbstständigt sich das Böse, schraubt sich wie ein Geist aus der Flasche und grinst dem Leser ins Gesicht. Und endlich befreit, holt das heraufbeschworene Böse zu einem weiteren Schlag aus.

Der Westen, führt Sorge aus, lebe in der Illusion, seine Menschenrechtsgesinnung, seine Dialogdiplomatie, seine Therapiekultur riefe bei den afrikanischen, arabischen, asiatischen Clangesellschaften, bei den unzimperlichen außereuropäischen Völkern Respekt hervor. Viel mehr jedoch würden sie als Schwäche ausgelegt. Ist denn der Westen zimperlich im Umgang mit anderen Kulturen, frage ich mich und denke an Afghanistan. Wodurch drückt der Westen denn seinen Respekt vor anderen Gesellschaften aus? Doch Sorg argumentiert weiter, der Westen habe vergessen, dass es nur seine überlegenen Waffen waren, die eine pazifistische Einstellung ermöglichten. Wieso vergisst er die vom Westen geführte Kriege?

Doch inzwischen hat Sorg eine Projektionsfläche für das inkarnierte Böse gefunden: den Wahnsinn des muslimischen Fundamentalismus. Selbstmordattentäter seien nicht verzweifelt, genauso wenig sozial benachteiligt, sondern hätten sich eben dazu entschieden, Bombenleger zu werden. Und der Westen beginge den Fehler, »elementar böse Aktionen in Nachhinein mit Sinn zu impfen«. Die »Menschen in den muslimischen Weltreligionen« hingegen würden nicht grübeln und erklären, sondern einfach jubeln, wenn ein Anschlag geglückt sei.

Islamismus oder Islam, Iran oder Sudan – alles verschwimmt undifferenziert. Die »magisch-archaischen Politikkonzepte« der Terrorristen stünden dem Westen bedrohlich gegenüber. Und überhaupt sei der gesamte Islam aggressiver und unduldsamer geworden. Wo bleiben hier die verschiedenen kulturellen Spielarten des Islam? Und was denkt wohl ein ganz »normaler« Muslim bei diesen Worten? Generalverdacht?

Eugen Sorg hat recht damit, dass dem Menschen das Böse innewohnt, und dass das Individuum die Freiheit hat, sich zu entscheiden. Doch diese Gedanken sind nicht neu. Bestimmt hat er bei seiner Arbeit in die Hölle geschaut und hat dabei vielleicht zu viel gesehen. Dass Europa endlich wahrnimmt, dass es auch andere Kulturen auf der Welt gibt, die ein Daseinsrecht beanspruchen, war überfällig. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Eugen Sorg seine Angst und den westlichen Machtverfall zusammenrührt. Und von diesem Cocktail berauscht, meint er vielleicht, sich selbst für das Böse entscheiden zu müssen. Er zündelt, schürt Angst und lässt den Leser damit allein. Denn Lösungsvorschläge bietet er keine.

Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist. Nagel & Kimche München, 154 S., brosch., 14,40 Euro.

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