Ein Gesetz, das es eigentlich gar nicht gibt
Versammlungsrecht: Sachsens CDU/FDP-Regierung droht Pleite vor dem Verfassungsgericht
Darf Sachsen an Orten wie dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig oder um die Dresdner Frauenkirche Demonstrationen untersagen; dürfen Aufmärsche in der gesamten Innenstadt von Dresden an den Jahrestagen der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eingeschränkt werden, und dürfen die Kommunen weitere Beschränkungen für Versammlungen erlassen? Heikle juristische Fragen, die sich nach der Verabschiedung eines neuen sächsischen Versammlungsgesetzes im Januar 2010 stellten – die aber in der Verhandlung gestern vor dem Leipziger Verfassungsgericht keine Rolle spielten. Dort hatten LINKE, SPD und Grüne geklagt, und es deutet alles auf einen Erfolg hin: Offenbar verstieß bereits die Art, wie das Gesetz zustande kam, gegen die Verfassung.
Das neue Gesetz wurde im Eiltempo durchs Parlament gedrückt; es sollte am 13. Februar 2010 gegen geplante Nazi-Aufmärsche genutzt werden können. In der Vorlage wurde deshalb auf das Bundesgesetz verwiesen; lediglich ein Paragraf wurde neu gefasst. Damit aber sei gegen das »Transparenzgebot« verstoßen worden, argumentiert der Rechtswissenschaftler Ralf Poscher, der die Klage vertritt: Die Abgeordneten erhielten nicht alle notwendigen Informationen. Zudem hätten sie keine Änderungsanträge zu Paragrafen des Bundesgesetzes stellen dürfen, betont Klaus Bartl (LINKE). Dort finden sich Aufgabenzuweisungen an den Bundesinnenminister, die der Freistaat nun faktisch übernommen hat – obwohl er dem Berliner Minister keine Order erteilen darf.
Das Gericht hatte mit seiner Beschränkung der Verhandlung auf derlei formale Fragen bereits angedeutet, dass es die Bedenken der Kläger teilen könnte. In der Verhandlung wurden zudem groteske Pannen bei der Ausfertigung und Veröffentlichung des Gesetzes bekannt. So zeichneten Landtagspräsident und Ministerpräsident nur den geänderten Paragrafen ab; der Verweis auf die Übernahme des Bundesgesetzes wurde nicht signiert. Ein Vertreter des Landtags begründete die Panne mit »redaktionellen Fehlern«. Poscher indes sagt: »Wir reden über ein Gesetz, das es faktisch gar nicht gibt und das nicht gerettet werden kann.«
Beobachter rechnen nun damit, dass die Richter das Gesetz bei der Urteilsverkündung, die für den 19. April angesetzt ist, durchfallen lassen werden. Die Koalition könnte es dann mit gleichem Inhalt, aber im korrekten Verfahren erneut beschließen lassen. »Dann sehen wir uns bald hier wieder«, kündigte Bartl im Gericht an. Praktisch, sagte der Grüne Johannes Lichdi, sei das Gesetz laut Auskunft der Regierung bisher gar nicht angewendet worden: »Es ist untauglich.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.