Menschenbildung statt »Bulimie-Lernen«

Warum zu viel Leistungsdruck im Unterricht für Schüler oftmals kontraproduktiv ist

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Durften vor Jahren noch die meisten Kinder einfach Kinder sein, gilt dies heute weithin als Zeitverschwendung: Frühenglisch mit Vier, Nachhilfe ab der ersten Klasse, Lernen an den Wochenenden und in den Ferien. Dennoch bleiben die erhofften Erfolge häufig aus, da zu großer Leistungsdruck vielen Kindern schadet, wie eine Grundschullehrerin jetzt in einem Buch schildert.
»Was ist der Mensch?«, fragte Immanuel Kant einst. Aus biologischer Perspektive könnte man darauf etwa wie folgt antworten: ein höchst erfolgreicher Generalist, der dank seiner Fähigkeit, sich auch widrigen Umweltbedingungen anzupassen, fast den gesamten Globus besiedelt hat. Allerdings sind, was gern vergessen wird, dieser Anpassungsfähigkeit auch Grenzen gesetzt. Das heißt, es gibt Umstände und Verhältnisse, in denen Menschen selbst bei größter Anstrengung die ihnen eigenen Begabungen nicht zu entfalten vermögen und stattdessen Schaden an Körper und Seele nehmen. Solche Verhältnisse verdienen daher nur eine Bezeichnung – sie sind im Wortsinne »menschenunwürdig«.

Schön und gut, mögen viele jetzt vielleicht denken, aber was hat das alles mit Lernen und Bildung zu tun? Eine Menge. Speziell das gegliederte Schulsystem in Deutschland reproduziert fortwährend soziale Verhältnisse, die großenteils in die genannte Kategorie fallen. Denn sie sind weder kindgerecht noch persönlichkeitsfördernd, wie die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny jetzt in einem Buch eindrucksvoll darlegt. Schon die Allerkleinsten würden in der Schule einem gnadenlosen Druck ausgesetzt, heißt es da, der darauf ziele, sie frühzeitig zu selektieren – »ohne Rücksicht auf individuelle Lebensumstände, Alter und Konstitution«.

Nun will ich den Leser hier nicht wie üblich mit irgendwelchen PISA-Daten langweilen. Dennoch muss im Jahr elf dieser OECD-Studienbewegung die Frage erlaubt sein, warum Politiker, die öffentlich beklagen, dass der Schulerfolg eines Kindes in Deutschland noch immer stark von dessen sozialer Herkunft abhänge, zugleich betonen, wie gut und effizient das mehrgliedrige Schulsystem sei. Dabei geht beides augenscheinlich nicht zusammen. Und wer konkret wissen möchte, warum das so ist, der lese Czernys Buch.

Die Autorin selbst hat mit ihrer Analyse des hiesigen Schulsystems nicht nur harsche Kritik erfahren. Mit der Begründung, dass die vielen guten Noten, die sie ihren Schülern im Unterricht gebe, außerhalb der statistischen Normalverteilung lägen, wurde Czerny, und das ist kein Witz, zuerst vom Amtsarzt psychologisch untersucht und dann strafversetzt. »Auch bei Ihnen muss es doch Fünfer und Sechser geben«, belehrte ein verzweifelter Schulbeamter die erfolgreiche Lehrerin, die 2009 für ihre Tätigkeit einen Preis für Zivilcourage erhielt.

Seitdem genießt Czerny eine gewisse mediale Aufmerksamkeit, wobei ihr pädagogisches Credo oft in dem Satz zusammengefasst wird: »Schulnoten sind von Übel und sollten so sparsam wie möglich gegeben werden.« Vielen mag diese Forderung wie ein Sakrileg erscheinen. Wie soll man ohne Zensuren Schüler miteinander vergleichen? Czerny stellt als Grundschullehrerin die Frage anders: Sagt ein solcher Vergleich überhaupt etwas darüber aus, was Erst- und Zweitklässler wirklich zu leisten vermögen? Ihre Antwort lautet: Nein. »Die Art, in der kleine Kinder die Welt entdecken – unbewusst, durch ihr tägliches Erleben und in einer großen, häufig ungefilterten Vielfalt – entspricht nicht dem Lernen, wie wir es aus der Schule kennen.« Die Erfahrung lehrt zudem, dass vielen Erstklässlern schlicht die Reife fehlt, die ungewohnten Anforderungen des Schulunterrichts jederzeit erfolgreich zu bestehen. Denn obwohl alle Kinder bei der Einschulung praktisch gleich alt sind, unterscheiden sie sich in ihrem Entwicklungs- und Lernstand erheblich. Oft um zwei, manchmal sogar um drei Jahre, wie Czerny meint. Bei Kindern aus bildungsfernen Schichten sind diese Defizite natürlich am stärksten ausgeprägt. An sich wäre das kein Malheur, sofern man die Lehrer dazu anhalten würde, zunächst auf einen annähernden Gleichstand unter den Schülern hinzuarbeiten. Doch das Gegenteil geschieht. Bereits acht Wochen nach der Einschulung müssen alle Kinder bei der ersten Probe die gleichen Aufgaben bewältigen. Damit geraten vor allem sozial benachteiligte Schüler in einen Teufelskreis: Da sie auf Grund ihrer vorhandenen Bildungsrückstände schlechtere Leistungen erbringen, verlieren sie rasch die Lust am Lernen und vergrößern dadurch ihren Bildungsrückstand zusätzlich.

In etwas salopper Art bezeichnet Czerny den frühen schulischen Konkurrenzkampf um gute Noten als »Bulimie-Lernen«. Denn das gepaukte Wissen muss im Prinzip nicht länger halten als bis zur nächsten Probe. Danach kann man es, man verzeihe den Ausdruck, wieder »auskotzen«. Statt also mit der Zeit zu lernen, werde in deutschen Klassenzimmern gegen die Zeit gelernt, resümiert die Autorin und fordert einen längeren gemeinsamen Unterricht für alle – und mehr Selbstbestimmung für Lehrer, da nur diese beurteilen können, welche pädagogische Maßnahme für welches Kind zu gegebener Zeit am besten geeignet ist. Wird Kindern durch Noten hingegen vermittelt, dass sie unfähig bzw. »dumm« seien, dauert es gewöhnlich nicht lange, bis sie eine solche Einschätzung verinnerlichen und es künftig unterlassen, sich auf den entsprechenden Gebieten überhaupt noch anzustrengen.

Ich zweifle nicht, dass Sabine Czerny eine überaus engagierte Lehrerin ist, die, wie man aus ihrem Buch erfährt, viel Zeit und Geld in die Vorbereitung ihres Unterrichts steckt. Gleichwohl wäre es illusorisch, dies von allen Pädagogen zu erwarten. Zudem bedarf es keiner »Superlehrer«, um kindliche Begabungen zu entdecken und zu fördern. Dafür sorgen Kinder zum Teil selbst, sofern man ihnen genügend Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Manche entfalten ihre Begabungen bereits im Grundschulalter, andere erst später. Vorausgesetzt, sie werden nicht zuvor durch schlechte Noten demotiviert und auf eine Schule abgeschoben, die ihnen nur noch eingeschränkte Bildungschancen eröffnet.

Übrigens: Es war kein Geringerer als Albert Einstein, der noch mit 15 die Schule schmiss, weil er die autoritäre Strenge und den Leistungsdrill dort nicht mehr ertrug. Danach verlor er für ein Jahr sogar jegliches Interesse am Unterricht. Und hätten ihn die Lehrer an der eher liberalen Kantonsschule in Aarau nicht wieder mental aufgebaut, vielleicht wären der Nachwelt manche seiner genialen Schöpfungen für immer verborgen geblieben.

Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in der Schule antun ... und wie wir das ändern können. Südwest Verlag, 384 S., 17,99 Euro.
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