Am Schabbat unplugged

Orthodoxer Jude und Pop-Exot: der US-amerikanische Reggae-Musiker Matisyahu

  • Sebastian Blottner
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie einfach das ist. Ein Hut und ein wallender Vollbart, Hemd und Anzug – der junge Mann wirkt vergeistigt und seriös. Genau genommen noch nicht einmal jung. Kleider machen eben Leute.

Als Künstler nennt sich Matthew Miller bei seinem hebräischen Namen Matisyahu. Das intellektuelle Image orthodoxer Juden hilft dem New Yorker bei seiner Show. Deren Geheimnis ist der gefühlte Gegensatz seines religiösen Sendungsbewusstseins zu der Musik, die er macht.


Matisyahu ist ein Phänomen und der wohl prominenteste aktive Reggae-Sänger der Vereinigten Staaten. Seine ersten spirituellen Erfahrungen machte er im LSD-Rausch auf Rockkonzerten. Als er die Schule schmiss, steckten ihn die Eltern in eine Wilderness School, eine Art Erziehungslager im Bundesstaat Oregon. Dort arbeitete er im Musikunterricht an seinen Sangeskünsten und entschied sich wenig später unter den Fittichen eines Rabbis für den ultraorthodoxen Lebenswandel.


Ein orthodoxer Jude, der zu Reggae- und Dancehall-Beats aus der Tora zitiert, am Schabbat keine Elektrizität benutzen und seine weiblichen Groupies nicht einmal berühren darf – das ist offenbar faszinierend. Zugegeben, der Exotenfaktor stimmt: Matisyahus Outfit ist im Popgeschäft so selten, wie ein katholischer Priester mit Irokesenschnitt und Nietenhalsband.


In den USA, wo bekanntlich auch schon mal Darwin vom Lehrplan gestrichen wird, gibt es für bekehrte Popstars einen dankbaren Markt. Drei Studioalben hat Matisyahu veröffentlicht, das Album »Youth« kletterte 2006 auf Platz vier der US-amerikanischen Albumcharts. Jüngst ist auch seine dritte Livescheibe »Live at Stubb's Vol. 2« erschienen. Matis?yahus auf der Bühne ausgelebter religiöser Eifer kommt gut an – ohne diese Bedeutungsebene ist sein großer Erfolg nicht vorstellbar.


Den hat er selbstredend auch in Israel. Auf der Ende 2006 veröffentlichten CD-DVD-Kombination »No Place To Be«, die schon im Titel auf die jüdische Geschichte anspielt, sieht man einen interessanten Konzertmitschnitt: Als ob er vor der Klagemauer stünde, wippt er auf der Bühne seinen Oberkörper vor und zurück und trägt dazu das religiöse Mischmasch seiner Texte vor. Wenn er an einer ruhigen Stelle an den Holocaust erinnert, um kurz darauf eine glorreiche jüdische Zukunft herbeizurappen, dann ist sein Kippa tragendes Publikum nicht mehr zu halten. Flaggen werden geschwenkt. Wer einmal in Israel war, weiß, dass es in diesem Land keine einfachere Suggestion geben kann.


Wenn es um Matisyahu geht, stellt bezeichnenderweise nie jemand die Frage, ob es nicht vielleicht besseren Reggae gibt. Oder bessere Reggae-Sänger. Matisyahu hat zwar eine angenehme Stimme, doch stellt er nicht viel mit ihr an. Einen Großteil seiner Performances füllt er mit minutenlangem meditativem Singsang der Sorte »woohjaaah« und »uhuuujaja«.


Weiß er aber, was er da redet, wenn er sich auf den Stufen einer Jerusalemer Altstadtgasse sitzend interviewen lässt und so unbedarft von »peace« spricht? In einer Altstadt, die leergefegt ist, deren sagenhaftes orientalisches Gewimmel es nicht mehr gibt, weil die dazugehörigen Menschen hinter eine neun Meter hohe Mauer aus Beton gesperrt sind? Eine Mauer, die halb Jerusalem umrundet und jenes zukünftige »kingdom« durchzieht, das er in seinen Liedern preist? Weiß er, was es bedeuten würde, den »Tempel wieder zu errichten«, wie er singend fordert? Dort, wo wenige Fußminuten entfernt seit über 1300 Jahren der Felsendom steht, die drittheiligste Stätte des Islam?


An dieser Stelle hat Matisyahu ein Problem, denn seine Texte haben, gewollt oder ungewollt, eine enorm politische Dimension. Politik mit einer Fuck-Off-Geste vom Tisch zu wischen, wie im Popgeschäft beliebt, fällt da schwer. Um sich nicht in Widersprüche zu verstricken, flüchtet er in allgemeine Floskeln, wie der, dass es ihm wichtig sei, religiöse und nicht religiöse Menschen an einem Ort zu versammeln. In seiner Ahnungslosigkeit wirkt er dabei fast rührend. Nebenbei beweist er unfreiwillig, dass die Sinnsuche hinter der gestrengen Kluft nicht weniger pubertär ist als Koksorgien und zertrümmerte Hotelzimmer.


Überhaupt ist Matisyahus Karriere, trotz aller Erweckungsdetails, lediglich eine originelle Variante des abgestandenen, guten alten amerikanischen Traumes: Vom Tellerwäscher zum Millionär beziehungsweise vom Bilderbuch-Loser zum Popstar. Über den Umweg eines Erziehungscamps steigt der kiffende Schulabbrecher in die Charts auf. Mit seiner Masche ist er gelandet. Wäre er es nicht – wer weiß, ob er Hut und Bart noch tragen würde.

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