Böser Herr Jedermann

Roberto Bolaño und das Strategiespiel »Das Dritte Reich«

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Mann war ein Berserker, ein wilder Krieger auf dem Schlachtfeld der Epik. Roberto Bolaño, 1953 geboren, wirbelte durch den Literaturbetrieb, zerschlug Konventionen, sorgte für Schauder und Schock. Susan Sontag erkannte in dem Chilenen den einflussreichsten spanischsprachigen Schriftsteller seiner Generation. Sein Monsterroman »2666« bekam 2008 in den USA den National Book Award als beste Neuerscheinung.

Wie ein Berserker hat der Mann auch gearbeitet, gewalttätig, wenn man so will, ein Junkie, versunken in seiner Sucht. Mit fünfzig ist er in Spanien gestorben, an Leberzirrhose, doch sein Vermächtnis, sein Nachlass wird uns noch lange beschäftigen; die Pforte zur Schatzkammer dieses Ritters geht gerade erst auf.

»El Tercer Reich« - »Das Dritte Reich« - so nannte der Chilene seinen ersten Roman. 1989 hat er das Buch abgeschlossen, es wurde zu Lebzeiten nie publiziert. Ich-Erzähler ist ein junger Stuttgarter, Udo Berger, ein Mann mit einem Faible für eigenwillige Brettspiele. Gemeinsam mit Gleichgesinnten simuliert Berger in Turnieren den Zweiten Weltkrieg - mit offenem Ende. Berger ist deutscher Meister in einem Strategiespiel, das genauso heißt wie der Roman.

In der Gegenwart der Erzählung, in einem August Anfang der Achtziger, macht Berger zusammen mit Freundin Ingeborg Urlaub an der Costa Brava (hier hat Bolaño damals gelebt). Die liebliche Ingeborg geht an den Strand, Berger übt - wie ein Schachspieler - Eröffnungen und Endspiele. Was als leichtes Sommerstück beginnt, kippt rasch ins Groteske, ein Horrorstück. In einer Disko befreunden sich Udo und Ingeborg mit einem durchgeknallten Paar aus Oberhausen, Charly und Hanna; die zwei führen Udo zu Leuten aus dem Ort, dämonischen Figuren. Unter ihnen ist »der Verbrannte«, angeblich ein Latino, durch Folter verunstaltet; er vermietet Tretboote, nachts schläft er in einer aus Booten konstruierten Festung. Charly verunglückt Tage später beim Surfen. Die Frauen reisen ab, Udo Berger aber bleibt, er widmet sich dem Brettspiel, ausgerechnet der Verbrannte wird sein Konterpart: In »Das Dritte Reich« übernimmt der Fremde die Rolle der Alliierten, er spielt sie so gut, dass er Berger (die Wehrmacht) in die Enge treibt. Der Showdown geht über Wochen, Berger merkt: Er kann nicht gewinnen, sein Leben gerät aus den Fugen.

Das Werk, Bolaños Erstling, bietet mehrfachen Genuss. Man spürt Meisterschaft, literarische Kraft. Der Debütant spielt sogar mit dem Status des Anfängers: Sein Held Berger - so fantasiert Bolaño - schreibe als Kriegsspiel-Experte bisweilen Aufsätze für Fachblätter, Beiträge in üblem Stil. Nun führt er Tagebuch, um die Mängel zu überwinden, das Buch ist dieses Tagebuch. Der Leser erkennt im Text bereits Themen, Mittel und Muster späterer Romane - Bolaños Ironie, den Hang zur Parodie, Krimi-Elemente, die Mischung aus Realismus und Anarchismus, und schon hier, in seinem ersten großen Werk, verknüpft der Autor Ästhetik und Gewalt, beharrlich geht er auf die Suche nach dem »Bösen« im Menschen.

In etlichen Büchern des Exilanten - »Die Naziliteratur in Amerika», »Stern in der Ferne«, zum Teil auch in »2666« - agiert das Böse vor dem Hintergrund faschistischer Diktaturen. War der Faschismus für den Erzähler also die Quelle des Bösen? Nein, so einfach hat es sich der Alt-Linke nicht gemacht. Wo in seinen Texten von »Nazis« die Rede sei, könne man auch »Stalinisten« lesen - das schrieb Bolaño ein Jahr vor seinem Tod per Mail in einem Interview: »Wenn ich vom Bösen rede, meine ich nicht das gewöhnliche Böse, sondern jenes absolut Böse, das all unsere moralischen Werte zerstört - das Böse, das zuallererst im Spiegel erscheint.« Kurz: Den Keim von Hass, Terror und Gewalt entdeckte der Dichter im Durchschnittsbürger; der Wirt des Bösen heißt Herr Jedermann.

»Das Dritte Reich« illustriert diese These. Der Protagonist ist ein kleiner Angestellter, farblos, erst 25, gewiss kein Sympathisant der Nazis. Seine Begeisterung für die Kriegführung der Wehrmacht macht ihn jedoch zum Apologeten der NS-Ideologie. Bergers Spielleidenschaft wird zur Metapher für unseren sorglosen Umgang mit der Vergangenheit - in Deutschland und in Lateinamerika. Wir ästhetisieren das Böse, wir konsumieren es als Film, Buch oder Spiel, wir verdrängen es; so kann es jederzeit machtvoll zurückkehren.

Die Chefin des Hotels an der Costa Brava fragt unseren Helden: »Was bedeutet es, deutsch zu sein?« Udo erwidert: »Sicherlich etwas Schwieriges. Etwas, das wir langsam vergessen haben.« Und so genießt dieser Berger aus dem Volk der Kriegsverlierer gedankenlos den Nachkriegs-Wohlstand, und abends spielt er Wehrmacht, nur so zum Spaß. Auf diese Weise wird er unschuldig schuldig, ein »deutscher Meister« im Kriegführen. Vielleicht ist dies die Botschaft des Romans: Jenes Böse, das den Faschismus und andere Ismen hervorbringt, lässt sich nicht besiegen - weil es prinzipiell im Menschen steckt.

Bergers Brettspiel hat reale Vorlagen, etwa »Rise and Decline of the Third Reich« und »Axis & Allies« aus den USA der Siebziger. Bolaño sammelte diese »wargames«. Warum? Weil er, ein ironischer Analytiker, die Verführungskraft des Bösen aus der Distanz ergründen wollte? Nein. Wohl nur deshalb konnte der Autor die Obsession seines traurigen Helden so trefflich darstellen: weil auch er ein Spieler war. Und weil er sich selbst in dieser Rolle belauert und studiert hat - einen Junkie, versunken in seiner Sucht.

Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag. 320 S., geb., 21,90 €.

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