Neugier aufs Leben
Seit fast neun Jahren lädt Gregor Gysi zu seiner Gesprächsreihe ins Deutsche Theater ein - das Buch dazu wurde bei »nd im Club« vorgestellt
Hätte gut sein können, dass aus Gregor Gysi ein Schauspieler wird. Als Kind war er Synchronsprecher beim Film, sprach sogar am Deutschen Theater für die Rolle von Wilhelms Tells Sohn vor (»Den Apfel habe ich ordentlich getragen«) - wurde aber abgelehnt. Gysi studierte also Jura, aus dem Rechtsanwalt wurde der Politiker Gysi, und der wiederum wurde irgendwann vom Intendanten des Deutschen Theaters gefragt, ob er nicht eine Gesprächsreihe übernehmen wolle. Eine Gesprächsreihe wohlgemerkt, keine Talkshow. Ausdrücklich ohne Kameras, trotz des Angebots eines Nachrichtensenders, die Sache auszustrahlen.
Die Neugier auf das Leben jenseits der Drucksachen und Schriftsätze ließ ihn zustimmen und durchhalten; mittlerweile ist »Gysi trifft Zeitgenossen« eine Institution in Berlin. Er habe ausdrücklich den späten Vormittag gewählt; dann könnten die Besucher irgendwo essen gehen - das sei doch dann ein schöner Sonntag. Hans-Dieter Schütt, der nd-Feuilletonchef, sitzt oft im Zuschauerraum; er geht danach nach Hause und schreibt einen langen, tiefsinnigen Artikel über das Gespräch für die Zeitung. Das ist für ihn ein gelungener Sonntag.
Gysi empfängt im schönsten deutschsprachigen Theater, wie Schütt bei der Buchvorstellung im nd-Gebäude anmerkt. Der begnadete Interviewer Schütt hat an diesem Abend nicht viel zu tun. Immer, wenn er fragt, ist es, als habe er eine Quelle angebohrt. Es sprudelt und sprudelt, Gysi kommt von seinen Lieblingsgästen zur Bankenkrise, von der Benachteiligung der Frauen auf seine Enkel, von skurrilen Anwaltsgeschichten zur Suche nach politischen Kompromissen. Ein viel beschäftigter Mann, der - wenn er seine Gesprächsreihe nicht hätte - vieles nicht läse, was er zur Vorbereitung lesen muss. 24 Stunden etwa braucht er, um sich für jeden Gast fit zu fühlen. Aber dann die Qual: Wie dieses Wissen in einige wenige Fragen packen? »Ich stelle wirklich nur Fragen«, beteuert Gysi für alle diejenigen, die noch nicht bei ihm im Theater waren, »für mich ist das ja eher widernatürlich.«
Nur einmal, gleich bei seiner Premiere, erhob sich der Regisseur Peter Zadek mitten im Gespräch, teilte knapp mit: »Herr Gysi, ich muss erstmal pinkeln« und verließ die Bühne. Da saß Gysi plötzlich allein und tat das, was er kann wie kaum ein anderer: einfach drauflos plaudern.
Die nächsten Gäste sind der Countertenor Jochen Kowalski, die Schauspielerin Senta Berger und der CDU-Politiker Volker Kauder, Gysis Kollege als Fraktionschef. Sie kommen zu ihm, die Künstler aus Os und West und, ja, auch die politische Konkurrenz. Eine schöne Form der Anerkennung. Nicht alle Wünsche erfüllen sich; Loriot beispielsweise sagte nicht zu, an Günter Grass arbeitet Gysi noch.
Nach seinen Gästen, nach seiner Arbeit in der Politik fragt Schütt. Gysi antwortet, redet eine Weile, gerät von diesem Stichwort zu jener Erinnerung, bis er - Frage und Fragesteller sind längst vergessen - zuverlässig an den Punkt gelangt, an dem er das Publikum fragt: »Soll ich Ihnen übrigens mal erzählen ...« Und dann geht es erst richtig los: Was sein schlauester Mandant angestellt hatte. Wie man ihn 1990 im Eichsfeld mit Kuhglocken am Reden hindern wollte. Worüber er bei langen Bundestagssitzungen nachdenkt. Wie sein lustigster Scheidungsfall ablief. Wie er die berühmte Demo am 4. November 1989 in Berlin auslöste. Wie Gaddafi in der DDR eine Moschee bauen wollte ...
Man hört gern zu und kann sich kaum vorstellen, dass dieser Mann zwei Stunden lang fast nur zuhört. Es stimmt aber. Es gibt Zeugen. Jedesmal einen ganzen großen Theatersaal voll.
Gregor Gysi, Birgit Rasch (Hrsg.): Offene Worte. Gysi trifft Zeitgenossen. Neues Leben, 240 S, brosch., 17,95 €.
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