Das Zentrum des Weltgewissens

Seit 25 Jahren treffen sich in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz KZ-Überlebende und Nachgeborene

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 6 Min.
Heute vor 67 Jahren befreite die Rote Armee das NS-Vernichtungslager Auschwitz. Auschwitz steht als Synonym für den faschistischen Massenmord an Juden, an Roma und Sinti sowie an Kriegsgefangenen. Eine Gedenkstätte hält die Erinnerung wach.
Christoph Heubner mit Auszubildenden von VW in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau
Christoph Heubner mit Auszubildenden von VW in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Was ist Auschwitz? »Es ist Zentrum des Weltgewissens.« So hat Christoph Heubner, Vizepräsident, des Internationalen Auschwitz Komitees, einmal geantwortet.

Ist das ein Ort, an dem sich Jugendliche mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzen können? Als die Internationale Jugendbegegnungsstätte vor gut 25 Jahren ihre Pforten in Oswiecim öffnete, gab es viele Zweifel. Zu nah, zu belastend sei die Nähe des ehemaligen Vernichtungslagers. Heute lautet die Antwort: Wo, wenn nicht hier sollten Jugendliche über drängende Menschheitsfragen nachdenken, über Schuld und Sühne, über Verantwortung für die Zukunft?

Arbeiten, lesen, diskutieren

Es war eine in jeder Hinsicht radikale Idee, die der junge Dichter Volker von Törne, damals Polen-Referent der evangelischen Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), gemeinsam mit dem ehemaligen Häftling Tadeusz Szymanski entworfen hatte: eine internationale Begegnungsstätte, einen Steinwurf vom Stammlager entfernt, als Projekt von Deutschen und Polen. Damals, in den 60er Jahren, waren die ehemaligen Erzfeinde von Versöhnung noch weit entfernt. Schwierig genug war es gewesen, die ersten deutschen Jugendgruppen mit der ASF nach Oswiecim in die Gedenkstätte zu bringen - und nun gleich ein eigenes Haus für Jugendbegegnungen?

Doch es gab Menschen, die das für möglich hielten, auf beiden Seiten. Am Ufer des Flüsschens Sola wurde ein passendes Gelände gefunden, 1981 ein Grundstein gelegt. Den überwucherte bald Unkraut, die Utopie drohte Utopie zu bleiben. Der inzwischen verantwortliche Polen-Referent Christoph Heubner, heute geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, kann sich nicht mehr erinnern, zu wie vielen Verhandlungen er nach Polen gereist ist.

Die Eröffnung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Ende 1986 wirkte wie ein Fanal. Veränderung war möglich! Es war einer von vielen Schritten der Öffnung Polens, einige Jahre vor dem Runden Tisch in Warschau, vor Glasnost und dem Fall der Mauer.

Das pädagogische Konzept der Begegnungsstätte wurde seitdem kaum verändert. Es hat sich bewährt. Für die meisten Gruppen gilt: Sie lernen das Lager und die Ausstellungen kennen, und sie arbeiten täglich für den Erhalt der Gedenkstätte. Oft sind es einfache Aufgaben wie Laubfegen oder Unkrautjäten. Für Kasimierz Albin, einen der allerersten Häftlinge in Auschwitz, ist noch wichtiger, dass die Jugendlichen in den Archiven forschen. »Sie studieren die Dokumente deutscher Verbrechen. Sie stellen sich ihrer Geschichte, sie weichen nicht aus.«

Umgekehrt ist für die Jugendlichen der Höhepunkt des Aufenthalts die Begegnung mit einem ehemaligen Häftling. »Vor allem bewundere ich, dass diese Menschen darüber berichten können, dass sie eine Stunde oder zwei mit uns darüber reden. Wir können es weitergeben«, sagt ein Teilnehmer. Den ehemaligen Häftlingen geht es ähnlich. Sie drängen nach der Begegnung mit den Jugendlichen, beobachtet Christoph Heubner, der immer wieder Auszubildende von VW Wolfsburg nach Auschwitz begleitet: »Die heutige Generation fragt direkt und schnörkellos. Sie wollen einfach wissen, was geschehen ist. Das gefällt den Überlebenden.«

Ein prägendes Erlebnis

Junge Menschen übernehmen von den ehemaligen Häftlingen Eindrücke von Auschwitz; das ermöglicht ihnen, die Gedenkstätte besser zu verstehen. Agnieszka Stefanko sagt: »Da ist eine Ausstellung, auf der einen Seite Bilder von Menschen in ihrer normalen Kleidung, auf der anderen schon als Häftlinge. Dazu hat Herr Heubner eine Geschichte erzählt: Eine Familie mit zwei Kindern musste packen. Man hat ihnen gesagt, sie müssten verreisen. Das waren Menschen mit Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft. Dann sind sie im Lager, und alles ist weg. Die Familie, alles ist weg.«

Die Begegnungsstätte bietet Jugendlichen eine Heimat in der kurzen Zeit, die sie dort verbringen. Das gilt auch für die ehemaligen Häftlinge - für Tadeusz Szymansky, der bis zu seinem Tod regelmäßig kam; für Kasimierz Smolen, den ehemaligen Direktor der Gedenkstätte; für Kasimierz Albin: »Das ist eine wundervolle Atmosphäre. Nachts kann es passieren, dass ich nicht schlafe. Das Kommando, wo ich gearbeitet habe, war genau nebenan. Dann denke ich an so vieles, was ich erlebt habe. Aber es hilft, mit diesen jungen Leuten zusammen zu sein.«

Was aber, wenn keine Überlebenden mehr berichten können? Die Begegnungsstätte bereitet sich darauf vor, berichtet ihr Leiter Leszek Szuster. Die Gespräche der Jugendlichen mit den ehemaligen Häftlingen werden in Videos festgehalten. Denn bei diesen Begegnungen entwickelt sich eine Dynamik, die bei einem einfachen Bericht nicht entsteht.

Eine andere Möglichkeit, Jugendlichen Zugang zum Thema Auschwitz zu verschaffen, ist die Kunst. Die Begegnungsstätte veranstaltet Workshops für Theater, Fotografie oder Bildhauerei, in denen sich junge Leute aus verschiedenen Nationen mit Auschwitz auseinandersetzen. Gerade hat das Internationale Auschwitz Komitee in Berlin eine Ausstellung eröffnet, die Auschwitz-Fotografien von heute zeigt, daneben die Kommentare polnischer und deutscher Jugendlicher.

Leszek Szuster kann auch von Steinmetzarbeiten blinder Jugendlicher berichten. »Sie haben das Lager besichtigt, mit den Händen erfühlt. Dann haben sie eine Woche lang schwer gearbeitet. Jeden Schlag in den Stein mussten sie mit den Händen überprüfen. Entstanden sind wundervolle Skulpturen. Die Betrachter können nicht glauben, dass sie von Blinden stammen.«

In der Begegnungsstätte arbeiten auch Freiwillige, die einen Friedensdienst leisten; zurzeit dauert er ein Jahr. Die meisten von ihnen hat das Thema Auschwitz nie mehr losgelassen. Viele sind heute in deutschen Gedenkstätten und Organisationen tätig. Ob als Wissenschaftler oder Künstler, die Erinnerungsarbeit wurde ihnen zur Lebensaufgabe; sie prägen die Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland mit. Ben Schaffer ist vor fünf Jahren aus der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz zurückgekehrt. Er arbeitet heute in der Ausstellung am Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Jan Krebs und Anja Witzel arbeiten im Anne-Frank-Haus in Berlin. Für sie war wie für die Jugendlichen der Kontakt zu den ehemaligen Häftlingen entscheidend.

Dokumente deutscher Verbrechen

Die Begegnungsstätte ist von einer Erinnerungskultur geprägt, die aus der Zeit von 1968 stammt, als junge Menschen sich gegen ihre Elterngeneration und deren Nazivergangenheit revoltierten. Der Zeitgeist hat sich seitdem verändert. Die Deutschen als Täter stehen weniger im Mittelpunkt des Gedenkens. Mehr und mehr wendet sich die öffentliche Aufmerksamkeit den Deutschen als Vertriebenen, Opfern oder Widerstandskämpfer zu. Die ZDF-Serie »History« zeigt das oft genug. Auch in der politischen Bildungsarbeit geht es immer stärker um das Thema Widerstand.

In der Begegnungsstätte Auschwitz beschäftigen sich Jugendliche mit den »Dokumenten der deutschen Verbrechen«, wie es Kasimierz Albin beschreibt. Sie suchen nach Ursachen von Rechtsextremismus und Intoleranz, auch heute. Volkswagen hat ein Werk in Zwickau. Auch dessen Auszubildende besuchten Auschwitz und erzählten schon vor Jahren von rechtsextremen Jugendlichen in ihrer Heimat - und davon, wie schwierig, aber wichtig die Auseinandersetzung mit ihnen ist.

»Auschwitz«, sagt Christoph Heubner, »ist ein Ort, dessen Spuren in die ganze Welt zeigen, der die ganze Welt bewegt und der sich an die Welt richtet, in Gegenwart und Zukunft.« Diesem Anspruch stellt sich die Internationale Jugendbegegnungsstätte. Die Autorin arbeitete 1984/85 als Freiwillige in der Gedenkstätte Auschwitz.

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