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Ideologische Trümmerfrauen

Buchpremiere in Berlin: Barbara Kirchner und Dietmar Dath sprachen mit Georg Fülberth über den »Implex«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Literaturforum im Brecht-Haus drängten sich am Dienstagabend sehr viel mehr Menschen, als für gewöhnlich hineinpassen. Als der Hauptraum voll war, wichen die unbeirrt weiter Hineinströmenden auf die Empore und in die bestuhlte Garderobe aus. Statt der hier sonst durchschnittlich dreißig Lesungsgäste waren zur Premiere von Barbara Kirchners und Dietmar Daths neuem Buch »Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee« etwa vier Mal so viele gekommen. Das Interesse an der Fortschrittstheorie der 41-jährigen Chemieprofessorin, die auch Romane und Essays schreibt, und des gleichaltrigen Science-Fiction-Schriftstellers, der parallel journalistisch, philosophisch und politisch arbeitet, ist offenbar groß, und dies generationenübergreifend. Zwischen Zwanzig und Achtzig mag das Publikum gewesen sein, recht ausgewogen gemischt.

Moderiert wurde der Abend von Georg Fülberth, 72, emeritierter Politikissenschaftler, Publizist, DKP-Mitglied. Der suchte - die Stirn zur Nasenwurzel hin in tiefe Falten gelegt, in denen erfahrungsgesättigte Skepsis sich ein Scharmützel mit nicht versiegender Neugier lieferte - zunächst einmal nach einer begrifflichen Einhegung des 880-seitigen Werks, das Kirchner und Dath da geschaffen haben. Was es sein soll, steht im ersten Satz: »keine wissenschaftliche Monographie, kein Manifest, keine philosophische Abhandlung«. Da »Der Implex« all das dennoch auch ist, sprach Fülberth zunächst von einer »Hybridform«, daraufhin vom »Protokoll eines Gedankenexperiments«, dann von einer »Evaluation von Geschichte und Gegenwart der Aufklärung in praktischer Absicht«. Vor den Kopf gestoßen davon, gleichzeitig sichtlich erfreut darüber, dass Kirchner/ Dath, deren Hauptaugenmerk im historischen Geflecht aus Imperfekt, Präsens und Futur auf der Zukunft liegt, Linke seiner eigenen Generation der »Theoriebildung Jüngerer« aussetzen, benannte Fülberth den Inhalt des Buches schließlich als »Revaluation zur Weiterverwendung«. Kirchner, Dath: »ideologische Trümmerfrauen«, die Tausende Einzelsteine aus dem Schuttberg politischer, wissenschaftlicher, ästhetischer Kämpfe seit der Frühaufklärung bergen, analytisch abklopfen und bezüglich ihrer Verwendbarkeit für ein neues Gebäude bewerten, darin der Fortschritt nicht nur gedacht, sondern vor allem, denn darauf kommt es an, gemacht werden kann.

Einen »Roman in Begriffen« nennen die Autoren ihr Werk, und Fülberth übersetzt zustimmend, was das ist: eine weltumfassende, welterzeugende Erzählung, in der die Figuren sprachliche Denkwerkzeuge sind und die Handlungen Argumentationsketten. Entstanden ist das Buch als Konzentrat eines sich über Jahre erstreckenden Austauschs »zweier Köpfe«, deren einer (Kirchner) »nicht beleidigt wäre, wenn man ihn einen sozialdemokratischen nennen würde«, während der andere (Dath) »jüngere und verrufenere Namen bevorzugt«. In der intensiven intellektuellen Suche nach Gemeinsamkeiten, so Fülberth, hätten die beiden etwas Nützliches entwickelt, das als »Abenteuer« erleben kann, »wer sich darauf einlässt«.

Das politische Programm des »Implex«-Buches besteht im Aufbrechen jeder starr behaupteten »Alternativlosigkeit«, die Annahme eingeschlossen, die weitere gesellschaftliche Entwicklung sei durch Geschichtsgesetze vorherbestimmt. Der Begriff »Implex« ist ein Instrument, das »das Verhältnis von gewissen Invarianten zu gewissen Variablen bestimmen« (Dath) und so zum politischen Eingreifen befähigen soll. Er bezeichnet und bestimmt die in einer wirklichen Situation eingewickelten Möglichkeiten sowie den jeweiligen Grad der Wahrscheinlichkeit ihrer Explifikation, mithin »die Verbesserungsmöglichkeiten innerhalb einer Sache«. Die Möglichkeit sozialen Fortschritts, soll das heißen, bedarf auch dort, wo solcher Fortschritt theoretisch möglich wäre, handelnder Menschen, die ihn normativ definieren und politisch durchsetzen.

Statt aus ihrem Buch zu lesen, trugen Kirchner, Dath einen eng verzahnten Dialog vor, aus dem sich Methoden ihrer Zusammenarbeit ebenso erschließen ließen wie der Grundimpuls ihres Aufbegehrens gegen die Trägheit. Daran, dass sie heute Professorin für Theoretische Chemie ist, so Barbara Kirchner, trage ihr einstiger Chemielehrer an der Schule eine unbeabsichtigte Mitschuld: Dessen Satz, »Hauptsache, ihr habt es euch gemerkt, verstehen müsst ihr es nicht«, hat einen weit tragenden Widerspruch in ihr ausgelöst. Dath ging es ganz ähnlich. Sein badischer Französischlehrer, nach grammatikalischen Herleitungen der von ihm gelehrten Sprache befragt: »Das mache die in Frankreich halt so.« Bis heute, bemerkte Dath ironisch, sei Frankreich für ihn »das Land, in dem es keinen Grund dafür gibt, wie geredet wird«.

Die scheinbar banalen Schulbeispiele mündeten rasch in komplexere. Kirchner rief die seinerzeit von Rudolf Scharping in Fernsehkameras gehaltenen »Evidenzen« für die Notwendigkeit des NATO-Kriegs in Jugoslawien in Erinnerung, in denen absolut nichts evidentes zu erkennen gewesen sei. Auch das Wort »Zone« wurde als Beispiel suggerierten Ausgeliefertseins herangezogen, speziell: »Euro-Zone«. Dath: Eine Zone ist ein »Ort ohne Alternative«, ein Sperrgebiet. Aber es sei eben möglich, »etwas anderes zu denken«, ein »Außerhalb des Knastes«. Kirchner, Dath, das wird auf dieser Buchpremiere sympathisch klar, haben mit ihrem Buch nicht zuletzt den Kampf gegen eine »Sprache der Ausweglosigkeit« aufgenommen - »das mache die halt so« -, der es mit logischen und praktischen Begründungen entgegenzutreten gelte.

Aber wer sagt, dass man dagegen vorgehen soll, gar muss? Keine Logik, keine Wissenschaft, keine Zwangsläufigkeit. Die anregende Beweglichkeit, die bei allen Schwierigkeiten der »Implex«-Lektüre, bei allen darin offen bleibenden Fragen, entsteht, resultiert vor allem aus der darin entfalteten undogmatischen, Dialektik ohne Ehrfurcht vor den Ahnen weiter treibenden Denkart. Nicht zuletzt ging es während der Buchpremiere um die »Dialektik von Subjekt und Objekt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass jeder lebende Mensch nach den Maßgaben seines eigenen Wollens etwas machen kann«. Als Synthese von Subjekt und Objekt tritt dann die Intersubjektivität zutage, die aber, so Dath, nichts anderes sei als »ein geschwollenes Wort für Gesellschaft«.

Nach einem Bonmot von Peter Hacks modifizieren Kirchner, Dath den Slogan »Eine andere Welt ist möglich« in das politische Programm »Eine andere Gesellschaft ist möglich« und liefern mit ihrem »Implex«-Begriff das Movens, die Veränderung durch gesellschaftliche Auseinandersetzung (die übrigens in Zweisamkeit beginnt) in Angriff zu nehmen. Das gewohnheitsmäßige Handeln, im Buch mit dem zentralen Begriff »Hexis« bezeichnet, soll durch selbstbewusste, zielorientierte, vernunftorientierte »Praxis« überwunden werden. Aber: Man kann keinen »befreien«, der seine eigene Lage gar nicht als Gefangenschafft erlebt, so Dath.

Lassen wir zum Schluss noch einmal Georg Fülberth zu Wort kommen, in dessen bleibenden Stirnfalten weiter die Neugier den Sieg davonträgt. Im »Implex« von Barbara Kirchner und Dietmar Dath offenbare sich für ihn, einen der »alten Linken«, die das Buch stellenweise brüskiert, nicht nur eine erkennbar heutige Fortsetzung der Auseinandersetzung von Liberalismus und Sozialismus (beide waren der Aufklärung implizit), sondern vor allem eine deutliche Absage an den zwei Jahrzehnte nach 1990 weit verbreiteten »Zynismus der Gewinner - und der Verlierer«.

Dietmar Dath/ Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Suhrkamp Verlag. 880 S., brosch., 29,90 €:

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