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Zwei Seiten des Roten Sterns

Jegor Ligatschow blieb der »Sache« treu - und rechnet mit Verrätern ab

  • Klaus-Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer mag die Sowjetunion verraten haben? Antworten finden sich bei Jegor Kusmitsch Ligatschow. Das war der einst mächtige Genosse neben Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der sogar als dessen Stellvertreter galt. Vom Mitstreiter für die Perestroika, der Umgestaltung des Sowjetsystems als letztem Versuch seiner Rettung, wurde er zum Widersacher. Just den Chefreformer und »seine Streiter für Demokratie« macht er heute als Schuldige namhaft.

Auf der anderen Seite finden sich jene, jetzt ältere Leser von »neues deutschland« werden sich erinnern, die sagten »Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben.« Sie galten als die »Konservativen« und »Bremser der Perestroika«. Nina Andrejewa, Hochschullehrerin aus Leningrad, wurde mit ihrem Beitrag in der »Sowjetskaja Rossija« deren Bannerträgerin. Der in dieser Zeitung am 2./3. April 1988 gleichfalls veröffentlichte Artikel löste auch hierzulande heftige Debatten aus.

Als Ideologiesekretär im Politbüro »empfahl« Ligatschow im März 1988 einer Runde von Chefredakteuren diesen Beitrag. Das war mehr als ein gut gemeinter Tipp. Das war eine knallharte Anweisung und eine strategische Richtungsbestimmung.

Denn »pseudodemokratische Radikale«, so Jegor Ligatschow auch heute, »machten die Geschichte zu ihrer Geisel, um als Helden die politische Bühne zu betreten«. Sie »machten sich daran, unsere ganze Geschichte von vorne bis hinten zu zertrümmern«. Dabei hätte doch die Partei schon mit dem XX. Parteitag »den Personenkult entlarvt«. Moderne »Herostraten«, nach dem Duden Verbrecher aus Ruhmsucht, hätten »alles Wertvolle und Kostbare unserer Geschichte in den Schmutz treten« wollen. Es sei, so Jegor Ligatschow, zu einem Zusammenspiel der Interessen der »Geschichtsstürmer« mit äußeren Kräften gekommen, die den Sowjetstaat schwächen, die sozialistische Ordnung stürzen und die Großmacht in die Rolle eines zweitrangigen Landes hinunterzwingen wollten.

Es ging um weit mehr als nur eine negative Betrachtung der Geschichte, es ging um das Ganze. Wie auch das von SED-Generalsekretär Erich Honecker verfügte Verbot des bunten sowjetischen Auslands-Magazins »Sputnik« kaum allein einer vorgeblich »verzerrten« Darstellung der Historie geschuldet war. Im Brennpunkt stand die Lebenslüge des Systems, wenn man so will. Die endlich offenbarte Realität räumte ohne Erbarmen mit Idealen, Verheißungen, Erwartungen, Hoffnungen auf. Natürlich auch den eigenen als Korrespondent dieser Zeitung in Moskau. Der Beginn eines langen Weges der Erkenntnis persönlicher Fehleinschätzungen und -leistungen.

Nicht für möglich gehaltene Wahrheiten wurden ausgesprochen. Viele, viele Menschen waren erschüttert. Entsetzen machte sich breit, Enttäuschung, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. Das unfassbare Verbrechen von Katyn, die sowjet-kommunistische und faschistisch-deutsche Kumpanei beim Molotow-Ribbentrop-Pakt, die Auslieferung der »eigenen Leute« an ihre Henker. Der höchste und edelste Anspruch war dahin. Die »lichte Zukunft« stürzte ein. Offenbar gab es kein Verbrechen, das ausgelassen worden, nicht die gröbste Lüge, die unversucht geblieben.

Aber selbst den Korrespondenten dieses Blattes, der davon Kunde gab, traf zuweilen der Bannstrahl des Vorwurfs einer »antisowjetischen« oder wenigstens einer »bürgerlichen« Berichterstattung. Doch nicht, weil Undenkbares offenbar wurde, kam es zum Untergang. Weil es wirklich geschehen war, zerfielen letztlich die allmächtige Partei und das Riesenreich. Sie hatten allen Kredit verspielt. Das nach aller damaliger kommunistischer Wissenschaft überlegene System, die »Sieger der Geschichte« traten trotz des Sputniks und aller Weltraum- und sonstigen Raketen ab. Ihre Bilanz war ein umfassender, neben dem ideologischen gerade auch wirtschaftlicher, Ruin. Was davon längst »bewältigt« wurde - wie angeblich der Stalinismus durch den XX. Parteitag -, blieb trotz erschütternder Auswirkungen immer noch Anfang. Jegor Ligatschow räumt ein, dass Medaillen zwei Seiten haben, es Dialektik gebe und Irrtümer. Bei der »Überwindung von Schwierigkeiten, die mit der Perestroika aufkamen«, hätte man sich aber doch, bedauert er, gut »auf die Ruhmesblätter der Geschichte unseres Landes und auf den Stolz unserer Bürger stützen können«.

Zur Wahrheit der Kollektivierung gehören jedoch die Hungersnöte und - buchstäblich - das Sterben der Bauern. Die »Großtat« der Industrialisierung ist undenkbar ohne die todgeweihten Sklaven aus den Gulags. Aufschwung ist nicht zu nennen ohne Untergang - das sind die beiden Seiten des Roten Sterns. Zur Modernisierung Moskaus in den 1930er Jahren gehört das große Morden. »Terror und Traum« fügte Karl Schlögel zu einem untrennbaren Begriffspaar mit seinem gleichnamigen Buch. Das sollte Pflichtlektüre aller Sowjetkunde sein.

Selbst der titanischen Leistung des Großen Vaterländischen Krieges, der Verhinderung einer Weltherrschaft des Faschismus ging die Erschießung der eigenen Spitzenmilitärs voraus. Nicht einmal die Mafia der Chaosjahre schamloser Bereicherung unter dem »Demokraten« Boris Jelzin ist denkbar ohne den permanenten Mangel der Sowjetzeit. Hier wurden die Netze der Beziehungen eng geknüpft, um mit den Problemen in allen Lebensbereichen fertig zu werden.

Wenn mit alldem nicht ein System gescheitert ist, was dann - hatte die gute Sache zuweilen einfach nur die falschen Führer? Ligatschow jedenfalls tut mit sicher berechtigten Schuldzuweisungen Michail Sergejewitsch, den »Reformern« oder auch dem wendigen Alexander Jakowlew, der hinterher immer schon vorher auf der siegreichen Seite gestanden haben will, zu viel Ehre an.

Dieses gewaltige Unternehmen der Zerstörung der Sowjetmacht ging weit über deren Kräfte. Da war in ganz anderen Dimensionen vorgearbeitet. Nicht zuletzt übrigens mit Welt- und mit Kaltem Krieg, Rüstung, Überrüstung, Totrüstung. Den Beschuldigten blieb die Begleitung des Prozesses. Da freilich hätte sicher manches anders ausfallen können und wäre vielleicht hie und da sogar etwas günstiger ausgegangen.

Ligatschows Darstellung erinnert an den »Klassenstandpunkt«. Danach wäre die »Sache« gut, weil sie richtig ist. Wir tun nichts, was dem Gegner nützt. Probleme, Abweichungen Fehlentwicklungen werden im Vorwärtsschreiten überwunden. Jegor Ligatschow war einst als »Trotzkist« verdächtigt worden, nach seinem Selbstzeugnis tätig unter Stalin, Chrustschow und Breshnew. Von Juri Andropow, dem Stammvater des letzten Versuchs einer Erneuerung des Sowjet-Sozialismus, wurde er ins ZK-Sekretariat berufen. Er kennt die KPdSU wie kaum ein anderer und ist »der Partei« und ihrer »Sache« unverändert treu. Wer wissen will, wie es aus dieser Sicht war und was geschah, findet hier authentisch Fakt und Erklärung.

Ligatschow zeigt freilich bevorzugt die eine Seite. Er bietet seine Einblicke. Vor uns liegt damit nicht nur das Buch eines Zeitzeugen. Jegor Ligatschow erweist sich zugleich in eigener Person als wertvolles Zeugnis der Zeit. Zuversichtlich erwartet er weiterhin den »letztlichen Sieg des Sozialismus auf dem Planeten Erde«.

Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sowjetunion? Das Neue Berlin. 320 S., br., 16,95 €

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