Märchen vom bösen Mädchen
Armin Petras inszeniert Gerhart Hauptmanns »Bahnwärter Thiel« am Berliner Gorki Theater
Was könnte heute noch an Gerhart Hauptmanns »Bahnwärter Thiel« so interessant sein, dass man ihn für die Bühne adaptiert? Die Handlung der Novelle von 1887 scheint eher gestrig. Aber der sachlich-distanzierte Ton lässt immer noch aufmerken.
Die erste Frau des Bahnwärters ist gestorben. Er hat einen kleinen Sohn, Tobias, also nimmt er sich ein andere Frau. Das Kind braucht eine Mutter. Eine »breithüftige und vollbusige« Magd. Die Wirtschaft muss versorgt sein, er selbst ist den ganzen Tag an seinem Bahnübergang im Wald. Die Stiefmutter quält den Kleinen. Thiel sieht ohnmächtig zu oder, lieber noch, einfach weg. Dann stirbt das Kind unter einem Zug und Thiel tötet im Wahnsinn seine Frau und das gemeinsame Baby. Viel mehr ist nicht. Das grausame Schicksal von Stiefkindern kann man heute nicht mehr leicht zum Gegenwartsstoff erheben, was also dann?
Petras inszeniert die Geschichte einer sexuellen Hörigkeit als apokalyptisches Tableau mit den Mitteln der Collage. Er nimmt dabei die dritte Person als Erzählperspektive. Nie geschieht hier etwas unmittelbar zwischen dem Ehepaar, es wird alles retrospektiv und indirekt. Was passiert also, das wir auf den ersten Blick nicht sehen? Wir lesen es bei Hauptmann: »Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig.«
Wir sehen die Geschichte einer Bedrückung bis zum Ausbruch jenes Wahnsinns, der sich Thiel bereits in mehreren bedrohlichen Träumen angekündigt hat. Er sieht seine tote Frau mit dem Kind auf den Bahngleisen. Er kann das nicht deuten, doch er erträgt diese Visionen weniger als die ständige dumpfe Gewalt im Hause. Bei Hauptmann sind Thiel und seine zweite Frau Lene Durchschnittsexistenzen aus dem Volke, so, wie er sie sieht: dumpf, langsam und grobschlächtig. Aber der Unterschied um alles: Thiel hat eine Seele, seine Frau nicht.
Dieser klischeeverdächtige Ansatz des jungen Hauptmann lässt sich ebenfalls kaum mehr glaubwürdig inszenieren. Aber was ist mit dem Wahnsinn? Als solcher bricht für Thiel die Außenwelt in seinen immergleich-geregelten Alltag ein. Plötzlich ist alles anders, die Realität hat sich eben doch nicht in den engen Grenzen des Gartenzauns halten lassen. Es ist kein Zufall, dass Tobias in Neu-Zittau unter die Räder des Schnellzugs aus Breslau kommt.
Diese Inszenierung wagt das Experiment, das Zusammenspiel von gesprochenem Text mit der Videoprojektion. Da vermischen sich Realitätsebenen. Olaf Altmann hat als Bühne einen engen Bilderrahmen gebaut, in dem dieser Abend stattfindet. Als die Katastrophe naht, kippt dieser Rahmen halb zu Seite, dahinter zeigt sich ein dunkler Abgrund. Thiels Welt war also auch nur eine Welt unter anderen Welten. Altmann hatte den Ton vorgegeben: karge Flächen, darauf das grausame kleinbürgerliche Idyll. Doch Thiel beginnt, anfangs es nicht einmal verstehend, an der Seelenlosigkeit seiner Frau zu leiden. Ihn schmerzt, dass sein Sohn Tobias von Lene gequält wird. Leider spielt Petras nun alle Einfälle hierzu durch, peitscht er das Tempo ständig voran. Es wird (und bleibt) grell.
Regine Zimmermann als Lene ist weder breithüftig noch vollbusig, sondern ein gummizähes aufblondiertes Girlie im Tigerfellimitat oder als Go-Go-Girl an der Tanzstange. Das böse Mädchen aus der Disko, das mit hartem Herzen und kaltem Hirn bevorzugt ältere und vom schweren Tagwerk bedrückte Männer auszubeuten gelernt hat. Im Hintergrund laufen Comics, deren Scherenschnitthaftigkeit an Tim Burtons nächtliche Fantasiewelten erinnern - lauter Dämonen, die mit böser Lust ihr Zerstörungswerk betreiben.
Hauptmann hat mit seinem Bahnwärter Thiel den leidenden Menschen stilisiert, der am Ende zum Mörder der eigenen Familie wird. Ein von seinen Trieben beherrschter Kleinbürger, der Lene nicht so liebt, wie er seine erste kränkliche Frau liebte. Doch immer wieder fallen beide gerieben übereinander her - stoßen sich brutal gegen die Bretterwände ihrer engen Welt. Ist dieses Weib denn die Quelle des Bösen? Es wird in dieser Inszenierung weder klar, noch hütet es sein Geheimnis. Lene gibt es zudem gleich doppelt, neben Regine Zimmermann noch als stumme Tanz-Rolle (Diane Gemsch).
Peter Kurth spielt Thiel gewiss eindrucksvoll als einen Kessel, in dem der Druck steigt und steigt - bis er explodiert. Da ist einer unfähig, sich auszudrücken, sich in seiner Misere zu verstehen. Nur mit dem geistig zurückgebliebenen Tobias kann er sich auf anrührend hilflose Weise verständigen, etwa, wenn er diesem die Geräusche der Tiere im Walde vormacht oder auf einem Fahrradlenker wie auf einer Trompete bläst. Aber zu oft gerät der Abend auf Nebenschauplätze. Der schlichte Erzählbogen lässt viel (allzu viel!) Raum für Ablenkungen aller Art und Petras erliegt der Versuchung, ihnen allen nachzugeben. Er überbebildert diese kleine bodenlose Geschichte.
Dabei hatte Hauptmann den elegischen Ton vorgeben, der einen Resonanzraum braucht. Der Schrecken besteht doch darin, dass Thiel alles, was ihm bisher vertraut war, auf bedrohliche Weise fremd wird. Er rutscht ab in eine ihm unbekannte Welt.
Nächste Vorstellung: 29.11.
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